Auf dem Rücken des Tigers
geheuchelter Reue und verzweifelnder Buße. Durch seine übergroßen, quadratischen Fenster fiel das Licht, als wollte es demonstrieren: wo viel Licht sei, gäbe es auch viel Schatten.
Auf dem Gang standen uniformierte Polizisten Spalier, mehr als zur Bewachung einer mörderischen Räuberbande aufgeboten werden mußten. Es schien Erik auch natürlich, denn jugendliche Demonstranten machten zu dieser Zeit den deutschen Gerichten mehr Kopfzerbrechen als überführte Mörder. Sie wären auch, hätten die Richter noch die Möglichkeit von gestern, genauso schwer bestraft worden. Wer demonstriert, schien unsichtbar an die Wände geschrieben zu sein, ist ein Rebell. Wer ein Rebell ist, wirft Steine, und wer Steine wirft, vergeht sich gegen eine Ordnung, deren größte und deutlichste Mißgeburt Auschwitz heißt.
Doch nicht dieses Vernichtungslager stand unter Anklage, sondern eine ungenehmigte Studenten-Veranstaltung vor dem US-Generalkonsulat. Unter Hunderten von Demonstranten – die den Vietnamkrieg verurteilten – hatte die Polizei drei herausgegriffen und zwei wieder laufenlassen müssen, weil der eine der Sohn des Oberlandesgerichtspräsidenten und der andere ein Straßenkehrer im Dienst gewesen war.
Der dritte aber bekam des Gesetzes Härte zu spüren. In der Verhandlung vor dem Amtsgericht war Gerd Wagenseil nicht nur bestraft, sondern es war auch ein Exempel statuiert worden: neun Monate Gefängnis ohne Bewährung. Das Urteil galt selbst in den Augen konservativer Staatsanwälte als hart, aber schließlich hatte der Vorrichter in die Begründung geschrieben, daß es erlassen sei, um andere Delinquenten abzuschrecken. Dieser Tenor war ebenso karrierefördernd für den Richter wie bedenklich in seinem Inhalt.
Daß das Urteil den Angeklagten nicht abgeschreckt hatte, demonstrierte er überdeutlich: Er stand da, ein trotziger Junge mit offenem Hemd, mit langen Haaren und mit einem Bart, wiewohl er wissen mußte, daß ihm dieses von der politischen Mode bevorzugte Attribut der Männlichkeit zu einigen Monaten Haftzuschlag verhelfen könnte.
»Wir treten also in die Berufungsverhandlung ein«, begann der Vorsitzende.
»Sie heißen?« fragte der Richter den jugendlichen Angeklagten.
»Das steht in den Akten«, antwortete er.
»Sie haben es hier zu sagen.«
»Ich habe keine Zeit für überflüssige Fragen«, versetzte der Angeklagte.
Es war Blackout, und die nichtmanipulierte Hälfte des Saales lachte schallend, so daß der Richter, um verständlich zu werden, zweimal sagen mußte:
»Ich lasse sofort den Saal räumen, wenn sich die Zuschauer nicht disziplinierter benehmen.« Er wandte sich wieder dem Angeklagten zu: »Sie werden aus meiner Verhandlung keine Demonstration machen«, sagte er. »Ich lasse Ihnen keine solche Antwort durchgehen – ohne Ordnungsstrafe.« Der Vorsitzende blätterte in den Akten. Dann sprach er schnell, wie um einer neuen Rüpelei zuvorzukommen: »Also, Sie heißen Wagenseil, sind Student der Soziologie, nicht vorbestraft und …«
»Vorhaltungen aus den Akten sind im Hauptverfahren unzulässig«, versetzte der Angeklagte.
»Ich warne Sie ein letztes Mal«, konterte der Vorsitzende. »Das Gericht ist nicht gewillt, sich zum Narren machen zu lassen.«
»Ich bin nicht gewillt, dieses Gericht, das ausschließlich dazu da ist, die etablierte Gesellschaft zu schützen, anzuerkennen«, erwiderte der Junge.
»Wenn Sie erst Ihre Strafe verbüßen«, warf der Staats anwalt ein, »werden Sie es schon anerkennen.«
»Meine Herren«, wandte sich Landgerichtsdirektor Dr. Müllner gleichzeitig an Staatsanwalt und Angeklagten, »so kommen wir nicht weiter.« Er klopfte mit einem Bleistift auf das Pult. »Ich möchte beide Bemerkungen zurückweisen und endlich um eine sachlichere Atmosphäre bitten.«
Der Angeklagte, der bisher gestanden hatte, setzte sich betont lümmelhaft auf seinen Stuhl.
»Stehen Sie gefälligst auf!« donnerte ihn Dr. Müllner an.
»Sie sitzen doch auch«, erwiderte der Junge und versuchte sich eine Zigarette anzuzünden.
Ein Saaldiener riß sie ihm aus der Hand.
Es kam zu einem Handgemenge, das der Richter schließlich mit drei Tagen Haft als Ordnungsstrafe beendete.
Er sah über den Angeklagten hinweg in den Zuschauerraum. Sein Blick erfaßte Erik, glitt mechanisch weiter zu Jutta, die sich bisher hinter dem mächtigen Rücken ihres Vordermannes verschanzt hatte. Erik verfolgte, daß der Richter wie geschlagen mit dem Kopf zurückzuckte, als er den Augen des
Weitere Kostenlose Bücher