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Auf dem Rücken des Tigers

Auf dem Rücken des Tigers

Titel: Auf dem Rücken des Tigers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will Berthold
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Erik nicht verlegen genug, um den Kopf zu senken.
    »Ich würde dich nicht heiraten«, versetzte Jutta. »Weder so noch so.« Sie stand auf und begann das Geschirr abzuräumen.
    »Ich möchte ein Abkommen mit dir treffen.«
    »Ja?« entgegnete Erik unsicher.
    »Wir wollen nie mehr darüber sprechen.«
    »Mitleid?« fragte er, fürchtend, seine Neurose könnte sich auf Jutta übertragen haben.
    »Nein«, antwortete das Mädchen.
    »Was fangen wir mit dem Vormittag an?«
    »Kein Themawechsel«, versetzte das Mädchen und sah ihn fest an: »Versprich mir, daß du nicht mehr daran denkst.«
    »Ich will es versuchen.«
    »Ich will dir helfen«, antwortete Jutta.
    Vermutlich erschienen ihr die Worte zu pathetisch: Wenn sie sich Sentiments nicht verschließen konnte, wollte sie diese wenigstens nicht zeigen.
    »Hast du heute vormittag etwas vor?« fragte sie.
    »Bei dir zu sein …«
    »Dann kann ich dir etwas Einmaliges bieten …«
    »Einmalig bist du immer für mich«, entgegnete Erik; seine Zunge stemmte sich nicht mehr gegen törichte Komplimente.
    »Eine Gerichtsverhandlung«, erklärte Jutta. »Nachhilfeunterricht in Staatsbürgerkunde.«
    Als er die zahlreichen Reporter mit den umgehängten Fotoapparaten sah, erschrak Erik ein wenig. Schließlich betrat er, 46 Jahre alt, erstmals einen Gerichtssaal in einem Rollkragenpullover, begleitet von einem jungen Mädchen, ein Fressen für die Klatschpresse – falls nicht die kreativen Persönlichkeiten der konzerneigenen Werbeabteilung mit ihrem Millionenetat der Pressefreiheit ein Dressurband umlegen könnten.
    Von dem Gebäude des Landgerichts aus verbreitete sich die Unruhe gleich Wellenringen. Viele junge Menschen standen herum wie Vereinsmitglieder, die sich zu einem Betriebsausflug versammeln, und es würde wohl ein Betriebsausflug in die Querelen der neuen Linken werden.
    Berittene Polizei patrouillierte auf und ab.
    Ein Rappe ließ einen Roßapfel fallen.
    Einer der Bärtigen schrie: »Todesstrafe!«
    »Kopf ab!« brüllte sein Kommilitone.
    »Klassenjustiz!« schrie ein Dritter, als sei das Urteil bereits vollstreckt, und das in einem Land, das sich gegen Tiere immer humaner benommen hatte als gegen Menschen.
    Vor dem Eingang zum Gerichtsgebäude entstand eine Stauung, alle drängten durch einen engen Flaschenhals, der von uniformierten Polizisten verkorkt war. Passepartout war die Erscheinung, wohl nach der Forderung eines Berliner Politikers: »Schaut ihnen in das Gesicht … Diese Gesichter müßt ihr sehen.« Heute betrachteten die Polizisten die Gesichter, ohne für den Gummiknüppel Maß zu nehmen.
    Jutta kannte sich in dem labyrinthartigen Gebäude aus, und Erik, der ihr folgte, erinnerte sich, daß sie Jura studierte. Er blieb einen halben Schritt hinter ihr, gelangte auf den Gang, der abgesperrt war, bewacht von einem zivilen Gerichtsdiener, dem heute eine kleine Armee von Uniformierten assistierte.
    »Haben Sie Platzkarten?« fragte er Jutta.
    Sie raunte ihm etwas zu, und der Mann wirkte zugleich ängstlich und mißtrauisch. Dann sah er Erik, den hochgewachsenen Mann im grauen Flanell mit kurzgeschnittenen, ordentlichen Haaren, und er ließ die beiden passieren.
    Der Saal war klein, gefüllt mit Zuschauern, die wie Hühner nebeneinander auf der Stange saßen, eng zusammengedrängt. Statt des Gefieders trugen sie Uniformen, und soweit sie in Zivil waren, erwiesen sich ihre Gesichter als uniformiert. Sie brauchten keine Platzkarten. Sie konnten auch dem Berufungsverfahren gegen den Studenten Gerd Wagenseil nicht viel abgewinnen, aber sie waren befohlen. Für sie war es Dienst.
    Wenn das Gericht laut Prozeßordnung den öffentlichen Charakter wahren mußte, so konnte es doch eine Umgehung manipulieren, indem es einen zu kleinen Saal wählte, diesen mit Polizeibeamten füllte, die einerseits gehorsame Diener des Staates und dann auch noch sofort zur Stelle wären, falls ungehorsame Staatsbürger – wie zu erwarten – im Gerichtssaal rebellieren sollten.
    Jutta und Erik quetschten sich in die letzte Bank. Unmittelbar nach ihnen betraten die Richter durch die Hintertüre den Raum. Der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Dr. Müllner, war schlank, groß. Kleine, graue Löckchen ringelten sich um sein gesundes, schmales Gesicht; eine würdige Erscheinung.
    Es schien Erik, als schwebten im Raum noch Lügen, wie sie die Gerechtigkeit erwartet, durchschaute und aburteilte.
    Der Saal roch nach Sauberkeit, in einem physischen Sinn, nach Advokatenkniffen, nach

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