Auf dem spanischen Jakobsweg
wird und somit der Eindruck einer Barockkirche vermittelt werden mag,
so fließen in dieser Kirche doch nahezu alle Stilrichtungen des Abendlandes,
von früher Romanik bis zum Neoklassizismus, harmonisch ineinander. Wir
verlassen nach unserer Besichtigungsrunde die Kirche dort, wo wir sie heute
Morgen mit unseren Rucksäcken betreten hatten, nämlich durch den schon
erwähnten Pórtico de la Gloria, ein Werk des berühmten Meisters Mateo, von dem
man nicht weiß, ob er Galicier oder Franzose war. Er vollendete dieses aus drei
großen Bogen bestehende Meisterwerk im Jahre 1188. Im mittleren Tympanon thront
Christus und zeigt seine Wundmale, um ihn gruppiert sind die vier Evangelisten,
dann folgen zu beiden Seiten Engel, die die Marterwerkzeuge und das Kreuz
tragen. Insgesamt kann man im Pórtico de la Gloria über zweihundert Figuren
bewundern. Sie sind fein ausgearbeitet, einige von ihnen scheinen sich amüsiert
zu unterhalten und alle tragen bereits deutlich individuelle Züge, ein
Fingerzeig auf die nahende Gotik, aber vor allem auf die Genialität Meister
Mateos und seiner Schüler. Es sind wieder ein paar Fußpilger angekommen, sie
legen ihre rechte Hand in die berühmte Marmorsäule, die den Baum Jesse
darstellt und vor der wir heute Morgen, noch mit Rucksack und Pilgerstock,
ebenfalls standen.
Wenn man
durch den Pórtico de la Gloria die Kirche verlässt, steht man auf der
doppelläufigen Barocktreppe. Jetzt haben wir Zeit, von hier oben diesen
prächtigen Platz, die Plaza do Obradoiro, auf uns wirken zu lassen. Kein
Rummelplatz, keine Verkaufsbuden, keine Würstchenstände, nur wenige Menschen,
die sich auf der weiten Fläche verlieren. Links von uns das Renaissancegebäude
des Collegio San Jerónimo, das einen schönen Innenhof hat und das Rektorat der
Universität beherbergt. Uns gegenüber die langgezogene klassizistische Fassade des
Palacio de Rajoy, heute Verwaltungsgebäude für die Stadt und den
Regierungsbezirk. Zu unserer Rechten, mit seiner berühmten plateresken Fassade,
das Hostal de los Reyes Católicos, auch ein Wahrzeichen Santiagos. Im Jahre
1492, nach der Rückeroberung Granadas von den Mauren, wurde es als „Königliches
Pilgerhospiz“ von Ferdinand und Isabella, den „Katholischen Königen“ erbaut,
heute dient es als Paradorhotel, wodurch der Unterhalt für die Erhaltung der
prachtvollen Säle und Innenhöfe gesichert sein dürfte.
Aber Santiago
hat nicht nur viele und alte, prächtige und schlichte Kirchen, Klöster und
Palacios. Es hat auch — und das macht die Stadt so liebenswert — über vielen
Hügeln erbaute und in Jahrhunderten gewachsene Gassen, die sich mal spontan
erweitern, dann plötzlich wieder verengen, in intime Plätze mit sprudelnden
Brunnen münden, Plätze, aus denen sich weitere Gassen sternförmig öffnen, die
steil ansteigen und wieder abrupt abfallen können und meist mit Steinplatten
ausgelegt und oft von Arkaden oder Kolonnaden gesäumt sind. Diese Stadt, man
riecht es förmlich, hat auch die Nähe des Atlantiks mit all seinen Launen, dem
ewigen Wechsel von Sonne und Regenschauern, von grellem Lichteinfall und grauer
Fahlheit und den vielen Zwischentönen, die hier nie zur Ruhe kommen. Santiago
hat eine wohltuende Atmosphäre, gelassen und friedlich, verbreitet von Aposteln
und Heiligen, von Pilgern und Wallfahrern, von Professoren und Studenten, von
pfiffigen Händlern in kleinen Läden und von jungen Kellnerinnen in alten
Kneipen — und von vielen lachenden Augen. Überall riecht es nach Weihrauch und
Schweiß, nach verbranntem Kerzenwachs, nach Wein und Meeresfrüchten, nach
verstaubten Urkunden und alten Büchern. Über allem schwingt die Symphonie aus
dem Klang der Glocken von über vierzig Kirchen.
In einem
Straßencafé treffen wir Alberto aus Brasilien, große Freude und Umarmungen, wir
trinken ein Bier zusammen, Paolo und Octavio scheinen schon aus Santiago
abgereist zu sein, schade, aber ihr müsst unbedingt in die historische
Pilgerkneipe „Casa Manolo“ gehen, dort treffen sich alle und es gibt sehr gutes
Essen. So schrieben wir uns die Adresse auf und trafen uns mit ihm dort am
Abend.
Heute, an
unserem zweiten Tag in Santiago, haben wir am Vormittag den Domschatz und die
Reliquienkapelle besucht. Unschätzbare Werte sind hier angesammelt worden und
die Reliquienkapelle ist auch die Grablege einiger Monarchen und ihrer
Gemahlinnen, obgleich hier nicht die größten Könige Iberiens liegen. Allerdings
stößt man hier auf die Grabplatte des
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