Auf dem spanischen Jakobsweg
Völkchen der Gattung
„Lumpazivagabundus“ und vermischte sich obendrein mit ortsansässigen Gaunern,
d. h. betrügerischen Gastwirten, Wucherern, einheimischen Landstreichern,
Strauchdieben und Räubern. Der Schriftsteller und Historiker Ferdinand
Gregorovius hat wohl nicht Unrecht, wenn er meint, „die Geschichte der
Pilgerungen ist zugleich die Criminalgeschichte jener Zeit.“ In den Kaschemmen
und Herbergen am Camino mag es in diesen Zeiten besonders farbig und fidel
zugegangen sein. Mit religiösem Antrieb aber hatte das meist nicht mehr viel zu
tun.
Auch die
höfische Gesellschaft suchte in adligen Reisegesellschaften nach Santiago nicht
etwa ihr Seelenheil, sondern angenehmen Zeitvertreib, und so berichten denn
auch die Begleiter des Sachsenherzogs Heinrich von dessen Pilgerreise, dass
Schlemmerei auf solcher Reise die beste Andacht sei und auch zum Ablass führe.
Und ein Standesgenosse von ihm, der Ritter Arnold von Harff, der Ende des 15.
Jahrhunderts nach Santiago auf Pilgerreise war und hierüber einen ausführlichen
Bericht vorlegte, sorgte sich um ein ganz anderes leibliches Wohl. Er verriet
nämlich, wie man „schoin junfrau, kumpt bij mich slaeffen“ auf baskisch zu
sagen hat, wenn die Dame der Wahl keine andere Sprache als eben Baskisch
verstand.
So mag die
tausend Jahre alte Brücke, auf der ich, ein Pilger des ausgehenden 20.
Jahrhunderts, stehe, unter ihrer Last auch manchmal geächzt haben,
zusammengebrochen ist die „Puente la Reina“ bis auf den heutigen Tag nicht.
Mundharmonikaspiel vor dem Königspalast
Während
meine beiden Gefährten die Herberge noch bei Dunkelheit verlassen haben, breche
ich heute etwas später auf. Ich möchte die „Brücke der Königin“, die mir
gestern so viele Geschichten erzählt hat, auch im Morgenlicht fotografieren.
Unter den Platanen, wo wir gestern Abend unser Bier getrunken haben, hat eine
Bar schon offen. Ich gehe hinein, bin der einzige Gast und bestelle mir einen
„café grande con leche“, einen großen Milchkaffee. Der Wirt ist schweigsam und
so schweige ich auch. In Nordspanien, hier im Landesinneren, hat das nichts zu
bedeuten. Die Menschen sind hier ernster und schwerblütiger, stiller, als es
unserem Spanienbild entsprechen mag.
Mein Weg
außerhalb von Puente la Reina geht schnell in einen gewundenen Pfad über. Ich
wandere durch Brombeerstauden, Rosmarin, wilden Lavendel, Thymian und blau
blühende Disteln. Ich ziehe dahin durch die Stille des Morgens, bin für mich
allein. Und ich denke etwas über mein Leben nach und darüber, dass ich schon
ein alter Bursche geworden bin und dass die Zeit, meine Zeit, sehr schnell
vergangen ist, und dass auch ich bald sterben werde. Aber ich bin nicht
traurig. Ich denke, dass es schön ist, dass ich diesen langen Weg noch gehen
kann, dass ich keine Schmerzen habe und nicht müde bin. Jetzt, nach ein paar
Tagen des Wanderns, über Berge hinweg und durch große Hitze, fühle ich, dass
meine Kraft nicht abnimmt, sondern noch gewachsen ist. Und plötzlich bekomme
ich von innen heraus die Gewissheit, dass ich bis nach Santiago laufen werde.
Mein Atem geht kräftig und mein Herz schlägt gleichmäßig. Unter meinen Füßen
knirscht der Sand.
In dem
kleinen Dorf Mañeru kann ich mir die Kirche von innen ansehen. Eine alte Frau
ist soeben mit dem Schlüssel gekommen und hat die Kirche aufgeschlossen. Sie
macht eine aufmunternde Geste, die mich einlädt, mit ihr in die Kirche
hineinzugehen. Die Menschen am Camino mögen die Pilger, immer wieder macht man
diese Erfahrung. Und ältere Menschen bitten uns gelegentlich, in Santiago für
sie zu beten. Das ist hier ein alter Brauch. Manche reichen uns Pilgern, wenn
wir mit ihnen ins Gespräch kommen, auch die Hand, suchen die körperliche
Berührung. Das soll Glück bringen.
Ich gehe mit
der alten Frau in die Kirche, lege meinen Rucksack ab, lehne meinen Stock an
eine Säule und setze mich in eine Bank. Immer, wenn ich aus dem grellen
Sonnenschein in die Stille und das gedämpfte Licht dieser uralten Kirchen
komme, empfinde ich das so, als würden Körper und Seele in einen dunklen
Samtmantel gehüllt. Ich bin so entspannt, dass ich meine nähere Umgebung nicht
mehr wahrnehme. Aber in dieser Kirche ist ja ohnehin nur diese alte Frau und betet.
Ich weiß nicht, wofür sie betet, und ich weiß auch nicht, wie ihr Leben war.
Der Zufall hat uns zusammengeführt und wird uns auch gleich wieder trennen.
Vielleicht hat sie immer in diesem einsamen Dorf
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