Auf dem spanischen Jakobsweg
diese Magie
vielleicht sogar noch bis in unsere Zeit hinein?
Natürlich
unterlag die Fieberkurve der Pilgerschaft nach Santiago durch die Jahrhunderte
erheblichen Schwankungen. Sie reagierte nicht nur auf Kriege und Seuchen, die
den Weg erschwerten oder unmöglich machten, sondern wie ein feiner Seismograph
auch auf geistige und religiöse Entwicklungen im Abendland, wie Reformation,
Aufklärung, französische Revolution und Säkularisierung. Aber zum Erliegen kam
diese Bewegung bis auf den heutigen Tag nie ganz, ja nach dem Zweiten
Weltkrieg, insbesondere seit den 1970er-Jahren, erlebt der alte Pilgerweg eine
stürmische Wiederentdeckung.
Die alte Brücke
über den Arga kann uns natürlich auch vieles über die Pilger selbst erzählen,
die über sie gegangen sind. Es dürften einige Millionen gewesen sein. Auch ihre
Motive und Erscheinungsformen unterlagen radikalen Mutationen, waren jeweils
Spiegelbild des Geistes und der Seele ihrer Zeit.
Mag es vor
der Jahrtausendwende noch überwiegend die religiöse Sehnsucht nach dem eigenen
Seelenheil gewesen sein, das man in der Nähe des Heiligen oder seiner
sterblichen Überreste zu finden glaubte, so kamen schon bald und in zunehmender
Zahl auch die an Körper und Seele Kranken, die hier Heilung von ihren Gebrechen
suchten. Ein seit dem Hochmittelalter zunehmendes Problem stellten dabei die an
Lepra, am Aussatz, Erkrankten dar. Im 12. Jahrhundert war diese Krankheit von
Teilnehmern an Kreuzzügen aus dem Orient nach Europa eingeschleppt worden. Die
damals nicht heilbare, aber im Gegensatz zur Pest langwierig verlaufende
Krankheit, die den einen traf und gleichzeitig seine unmittelbare Umgebung
verschonte, hatte für die damaligen Menschen etwas Unheimliches, Unerklärliches
an sich. Dazu kamen die schaurigen Verlaufsformen. Erst Ausfall der Augenbrauen
und Verdickung der Nase, dann gekrümmte Körper, verkrüppelte Glieder,
kreischende Stimmen, hitzige Fieberphasen, Bildung von Geschwüren,
Verstümmelungen, schließlich Auszehrung. Nicht genug, dass diese armen Teufel
bei fortgeschrittener Erkrankung Krücken und Stöcke brauchten, um sich
fortbewegen zu können, sie mussten auch noch mit Holzklappern herumlaufen,
damit ihr Kommen niemandem verborgen blieb. Aus der Gesellschaft wurden sie
völlig ausgeschlossen, galten als Unberührbare, die nur in eigenen
Siechenhäusern außerhalb der üblichen Siedlungen wohnen durften. Meist blieb
ihnen nichts anderes denn als Landstreicher bettelnd umherzuziehen. Aber auch
die ihnen zugedachten Almosen stellte man ihnen nur vor die Haustüre. Die
Häuser selbst blieben ihnen verschlossen, aber auch Märkte und sogar Kirchen.
Was Wunder,
dass diejenigen, die noch laufen konnten, sich Hilfe auch vom Heiligen Jakobus
im fernen Galicien erhofften. Aber auch auf dem Weg dorthin blieben ihnen die
meisten Türen verschlossen. Immerhin haben vor allem Klöster im Laufe der Zeit
auch für diese Ärmsten der Armen ein Netz von speziellen
Betreuungseinrichtungen aufgebaut, sogenannte Leprosorien.
Eine große
Gruppe unter den Pilgern stellten zu allen Zeiten auch jene dar, die für die
Errettung aus irgendwelcher Not ein Gelübde abgelegt hatten und dieses nun
erfüllen wollten. Aber seit dem 12. Jahrhundert, als der Pilgerstrom nach
Santiago zu einem Massenphänomen geworden war und Rom den Rang abgelaufen
hatte, sah die alte Brücke unter meinen Füßen auch schon die ersten
professionellen Pilgerbrüder und — Schwestern. Diese zogen stellvertretend für
Wohlhabende, die diese Strapazen und Gefahren nicht auf sich nehmen wollten
oder konnten, nach Santiago und ließen sich das bezahlen. Selbst ohne
religiösen Impuls, lebten diese den ihnen angeborenen Wandertrieb aus und
frönten ihrer Abenteurerlust. Mit ihnen wurde dann allerdings oft die Grenze
zum Vagabundentum, zur berufsmäßigen Bettelei, ja Gaunerei bis hin zum
Banditentum überschritten.
Diese erste
größere Krise, im ausgehenden Mittelalter dann notorisch geworden, wurde noch
erheblich verstärkt durch die sogenannten „Strafpilgerschaften“. Jetzt schickte
man nämlich aus ganz Europa, insbesondere aus Deutschland und Holland, auch
Mörder, Räuber, Diebe und Betrüger zur Sühne nach Santiago, natürlich in der
Hoffnung, diese nie mehr zu Gesicht zu bekommen. Aber auch kleinere Sünder mussten
zum Pilgerstock greifen. In der Stadt Mechelen konnte schon nächtliche
Ruhestörung zu diesem Verdikt führen.
Auf dem
Jakobsweg traf sich dann das ganze internationale
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