Auf dem spanischen Jakobsweg
der
Herberge von Estella kommen wir gegen 15 Uhr an, völlig durchgeschwitzt, aber
bei guter Laune. Wir duschen, waschen unsere schweißnassen Kleider und liegen
dann im Schlafsaal herum. Die Blase unter meiner rechten Zehe spüre ich nicht
mehr. Nach etwa einer Stunde gehen wir zur historischen „Gefängnisbrücke“, die
steil nach oben
geschwungen den Río Ega überspannt. Anschließend steigen wir zur Kirche San
Miguel hinauf. Der Rundblick über die vielen, ineinander verschachtelten Dächer
erinnert mich an Ausblicke, wie man sie an manchen Stellen von der Nürnberger
Burg auf die unmittelbar darunter liegende Altstadt hat. Die Kirche aber ist
berühmt für ihr romanisches Nordportal — unter den vielen Kirchenportalen, die
wir bisher gesehen haben, das beeindruckendste. Für den mittelalterlichen
Pilger, der oft nicht lesen konnte, aber die Botschaften der Bibel besser
kannte als die meisten Menschen unserer Tage, muss ein solches biblisches
Universum wie ein großes Bilderbuch gewesen sein, in dem er ohne weiteres lesen
und alles verstehen konnte. Aposteldarstellungen, der heilige Michael als
Drachenbezwinger, zwei Engel, die den drei Frauen das offene Grab zeigen,
Bilder aus dem Leben Marias von der Verkündigung bis zum Kindermord von
Bethlehem, Christi Geburt, König David mit der Harfe, Propheten und vieles
mehr.
Unser
anschließender Bummel durch die Altstadt wird jäh unterbrochen. Die Hitze des
Tages entlädt sich in einem plötzlich hereinbrechenden Gewitter. Wir erreichen
gerade noch rechtzeitig die Herberge, wo wir uns hungrig auf den Inhalt unserer
Jutesäcke stürzen: Weißbrot, Salami, Schinken, Käse, Fischdosen, Paprika,
Tomaten, Pfirsiche und ein paar Nüsse mit Rosinen, immer das Gleiche, und
trotzdem wird alles gierig verschlungen.
In der
Herberge herrscht viel Betrieb, weil die Pilger wegen des Gewitters nicht im
Städtchen herumlaufen können. Auch in dem kleinen Aufenthaltsraum, wo wir jetzt
zu Abend essen, sitzt man dicht beisammen. Das Sprachendurcheinander erinnert
an Babylon. Zum ersten Mal höre ich jetzt auch Finnisch und Norwegisch. Schön,
dass auch ein paar Nordmänner unter uns sind.
Unsere
übliche Flasche Rotwein wollen wir heute erst nach der abendlichen Pilgermesse
trinken, die in der — ebenfalls berühmten — Kirche San Pedro de la Rúa
abgehalten wird. Aber dorthin kommen Heinz und ich, weil wir uns zu lang an
unserem Schinken gelabt haben, erst, als die Messe schon langsam zu Ende geht.
Da sich alles in einer Seitenkapelle abspielt, können wir uns, ohne jemanden zu
stören, diese auffallend mächtige Kirche aus dem 12. Jahrhundert ansehen. Heute
Nachmittag war sie noch abgeschlossen.
Als wir
wieder hinaustreten, ist vom Gewitterregen nichts mehr zu spüren. Straßen und
Häuser sind schon wieder trocken, die Luft ist nach wie vor sehr warm und
stickig. Tobias, der als Pfarrer sich nicht so lange mit seinem Schinken
beschäftigen konnte und folglich pünktlich in der Messe war, ist wieder zu uns
gestoßen. In der nahen Herberge holen wir uns unsere Rotweinflaschen. Dann
gehen wir zu einem kleinen Platz mit einem Brunnen in seiner Mitte. Dieser
Platz liegt unmittelbar am Palast der Könige von Navarra, Sancho der Weise hat
ihn im 12. Jahrhundert bauen lassen.
Es ist Abend
geworden und eine milde Stimmung hat sich über das Städtchen gelegt. Wir lassen
den Rotwein langsam in uns hineinrieseln und sind völlig entspannt. Da holt
Heinz seine Mundharmonika heraus und spielt alte deutsche Volkslieder. Mehr und
mehr Spanier, vor allem Jugendliche, werden angelockt, bleiben aber diskret am
Brunnen vor uns sitzen und hören zu. Als er eine Pause macht, um Wein zu
trinken, fragt eine junge Spanierin etwas scheu, ob er nicht noch ein bisschen
spielen könnte. Und das kann er der jungen Dame natürlich nicht ausschlagen.
Schade, dass in dem Palast keine Königin mehr wohnt, sicher käme sie jetzt
heraus und würde zuhören. Vielleicht dürften meine beiden Gefährten sogar in
ihren Gemächern Vorsingen und ich, wegen meiner Stimme, unterdessen wenigstens
ein Gläschen Wein probieren.
Der Tag war
lang. Wir müssen zurück in unsere einfache Herberge. Dort wird man bald das
Licht ausmachen.
Internationaler
Frühschoppen an den Mauern des Klosters Irache
Wir schleichen
uns noch bei Dunkelheit aus Estella hinaus. Es wird wieder sehr heiß werden und
dann ist man froh über jeden Meter, den man gelaufen ist, bevor die Sonne ganz
oben steht. Schon nach einer
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