Auf dem spanischen Jakobsweg
natürlich, dass Rom mehr
und mehr in den Mittelpunkt des Interesses für Pilgerreisen trat. Aber das
beinhaltete auch eine folgenreiche qualitative Veränderung. Nicht mehr
unmittelbar Christus selbst galt das religiöse Anliegen dieser Pilger, sondern
den Aposteln Petrus und Paulus. Hiermit aber war ein erster Schritt hin zur
Heiligenverehrung und schließlich zum ausufernden Reliquienkult des ausgehenden
Mittelalters getan. Aber auch zu den Wallfahrten, die in Abkehr vom alten
Pilgergedanken, der ein individuell-religiöses Erlebnis zum Inhalt hatte,
nunmehr in größeren Gruppen, in Prozessionen unternommen wurden und an viele,
insbesondere an nahe gelegene Orte, führten.
Aber sowohl Pilgerreisen
als auch Wallfahrten wurden mehr und mehr zu einem Massenphänomen, begleitet
vom Ablasshandel, dessen erhebliche materielle Erträge nicht nur karitativen
Einrichtungen zugute kamen, und der schließlich zu einem blanken Instrument der
Geldgier entartete. So nahmen Heiligen Verehrung und Reliquienkult allmählich
absurde Formen an. Die Metzger zum Beispiel kürten den heiligen Bartholomäus zu
ihrem Schutzpatron, weil ihm im Martyrium die Haut vom Leib gezogen worden war.
Und das Beschaffen, ja der Diebstahl von Reliquien nahm einen Umfang an, der
nur noch mit einer besonderen Form von Kleptomanie erklärt werden kann. Die
„Fundstücke“ waren oft genug kurios. Es gab Manna aus der Wüste, das Nähzeug
Mariens, Stroh aus der Krippe Jesu und jede Menge Splitter aus dem Kreuz
Christi, letztere in einem Ausmaß, dass der Fanziskaner Bernhardin von Siena
meinte, dass sechs Ochsen, fügte man alles zusammen, die Last nicht tragen
könnten und der große Humanist Erasmus von Rotterdam schätzte, dass sogar ein
ganzes Lastschiff nötig wäre, um alle Partikel zu transportieren. Mehr und mehr
war bei diesem Kult Magie an die Stelle von Religion getreten. Aber am Horizont
wurde schon das Wetterleuchten der Reformation sichtbar.
„Aber wie
war das denn mit der Pilgerbewegung speziell nach Compostela?“, so könnte man
die alte Brücke unter mir fragen.
Mit der
Abnahme von Pilgerreisen an die Stätten Jesu und der gleichzeitigen Hinwendung
zu den Apostelgräbern in Rom, also noch lange bevor Pilgerreisen zu einer
Massenerscheinung wurden, war zumindest mental der Weg frei für Pilgerfahrten
auch an die Gräber weiterer Apostel und Heiliger. Und dann wurde da plötzlich,
um das Jahr 813, im fernen Galicien das Grab des Heiligen Jakobus entdeckt, ein
Jünger Jesu und sein erster Blutzeuge durch das von ihm erlittene Martyrium in
Jerusalem.
Es fällt
schwer, anzunehmen, dass die Auffindung dieses Grabes purer Zufall war. Im
Jahre 711 waren die Mauren in Spanien gelandet und hatten in wenigen Jahren die
Iberische Halbinsel besetzt. Allerdings mit Ausnahme der schwer zugänglichen
und für die Söhne der Wüste auch noch klimatisch ungewohnten Bergregionen in
Spaniens Norden. Hier konnten sich, wie wir schon gehört haben, kleine,
germanisch dominierte Königreiche halten, die in einem fortwährenden Abwehrkampf
gegen die Muslime standen. Vor allem das Königreich Asturien übernahm in der
frühesten Zeit — an Stelle des bisherigen westgotischen Zentrums Toledo — die
Aufgabe einer Neuorientierung. Hierunter verstand man nicht zuletzt ein
Zurückdrängen der Mauren, also die Wiedereroberung verlorener Gebiete. Für eine
solch gewaltige Aufgabe bedurfte es aber auch neuer geistiger Waffen, hierzu
war ein spiritueller Leitstern wichtig. Vielleicht ein Jünger Jesu, der den
Märtyrertod erlitten hatte?
Ein Phänomen
bleibt es dennoch, dass sich die Pilgerbewegung ausgerechnet in das ferne,
gänzlich unbekannte Compostela wie ein Fieber ausbreitete und in kurzer Zeit
die ganze, vor allem an Rom orientierte Christenheit erfasste. Natürlich gibt
es hierfür viele Gründe. Der Pilgerweg wurde, gefördert von den politischen
Bestrebungen der Reconquista, nicht nur propagiert, sondern auch ausgebaut. Die
alte Brücke, auf der ich stehe, ist ein Beispiel hierfür. Aber vielleicht lag
es nicht zuletzt auch daran, dass die wundersamen Umstände, die sich um diesen
Ort und seinen Heiligen rankten, die Phantasie des mittelalterlichen Menschen
im besonderen Maße entzündeten. Vielleicht auch daran, dass Jakobus den
damaligen Menschen „modern“ erschien, dass er dem auch im damaligen Menschen
steckenden Wandertrieb mehr emotionale Resonanz entlockte als die schon so
alten und etwas verstaubten Apostel Petrus und Paulus in Rom. Wirkt
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