Auf dem spanischen Jakobsweg
halben Stunde kommen im ersten Morgenlicht die
Umrisse des Klosters Irache in Sicht. Zur Zeit der Westgoten erbaut, wurde es
schon im Jahre 1051 mit einem Pilgerhospital ausgestattet. Die heutigen Gebäude
stammen überwiegend aus dem 12. Jahrhundert. Nach der Vertreibung der Mauren
wurde Irache zu einem der wichtigsten Klöster hier in Spaniens Norden. Der
Geist von Cluny wehte besonders nachhaltig durch alle Räume dieses
Klosterkomplexes. Aber es war ein reformerischer, ungemütlicher Wind, der da
von Burgund kommend über die Pyrenäen pfiff. Die einzelnen Klöster, die dieser
neue Geist erreicht hatte, wurden allesamt dem Abt des Klosters Cluny
unterstellt und hatten nur noch einen Prior an ihrer Spitze. Der Abt von Cluny
selbst ordnete sich allein dem Papst in Rom und nicht mehr den Bischöfen unter.
Das alles hätten die damaligen Insassen der Klöster vielleicht noch ohne großes
Murren hingenommen, wenn man ihnen ihre alte Behaglichkeit gelassen hätte. Aber
mit Cluny ging es ja auch und vor allem um die Zucht und Ordnung in den
Klöstern, und das war schon eine ernste, eine sehr ernste Sache.
Längst waren
die damals immerhin schon einige hundert Jahre alten Klosterregeln des heiligen
Benedikt von Nursia in Vergessenheit geraten. Aber genau diese wurden jetzt
wieder aus dem Schutt der Kirchengeschichte herausgebuddelt und sogar erweitert
und verschärft. Vorbei war es mit der alten Fröhlichkeit, den üppigen
Fleischgerichten, den vollen Weinkannen, dem Herumlungern im Kreuzgang, den
vielen gemütlichen Schwätzchen über dies und das, dem Nickerchen während des
Gottesdienstes, der Unpünktlichkeit im Refektorium und den unter dem Kopfkissen
versteckten Goldstückchen. Jetzt hieß es wieder: bete und arbeite und lerne zu
schweigen! Was den Wein im besonderen anging, so hatte ein anderer Benedikt,
nämlich Benedikt von Aniane, Wortführer einer neuen Klosterreform, für Mönche —
und wir hören sie im Hintergrund beten: o Herr, verschone uns vor diesem Übel -
doch tatsächlich die Null-Promille-Grenze durchsetzen wollen. Aber hieran war
er — jetzt jubeln sie: laudate domino — gescheitert, wie er etwas kleinlaut
einräumen musste:
Zwar lesen wir, der Wein sei
überhaupt nichts für Mönche; weil man aber in unserer Zeit die Mönche davon
nicht überzeugen kann, wollen wir uns wenigstens damit zufrieden geben, dass
wir nie bis zur völligen Sättigung trinken, sondern etwas weniger.
Das war
immerhin noch eine sehr großzügige Regelung, jedenfalls wenn man unter
„völliger Sättigung“ eine subtile Umschreibung des Rausches verstehen durfte.
Noch bis in
unsere Tage hinein weht, was den Wein angeht, ein sehr großzügiger Wind um die
Mauern des Klosters Irache. Schon aus einiger Entfernung fächelt der milde
Morgenwind den Duft von Traubentrester aus der großen Klosterkellerei um unsere
Nasen. Unserem Pilgerführer haben wir natürlich längst schon entnommen, dass
man hier „eine der angenehmsten Überraschungen erleben kann, die der Pilgerpfad
bietet“ — nämlich eine kostenlose Weinquelle für Pilger. Obwohl es noch immer
ziemlich dunkel ist, müssen wir nicht lange suchen. Paolo, der Hüne aus Porto
Alegre, winkt schon mit seinem riesigen Pilgerstock, mit dem er — jetzt habe
ich endlich die Assoziation - der Jakobusfigur in Puente la Reina ähnlich
sieht.
„Buenos
días“ und „halli, hallo“, da läuft doch tatsächlich aus einem Hähnchen, wenn
man daran dreht, roter Wein. Sogar ein paar Gläser hat jemand bereit gestellt,
vielleicht ein Kobold aus der dunkelsten Ecke des Weinkellers, den der „Geist
von Cluny“ damals nicht zu fassen bekam.
Andere
Pilger kommen jetzt angeschnauft. Lange vorher hört man in der Stille des
Morgens schon den Aufschlag ihrer Stöcke auf das Pflaster. Schnell ist es
allerdings mit der Morgenstille vorbei. Der Ort erfüllt sich zunehmend mit
guter Laune. Der hastig getrunkene Wein steigt schnell ins Blut und verbreitet
Wohlbehagen in den Pilgerherzen. „Salud“ und „Prost“ und „a votre santé“ und
„cheers“ auf unsere beiden Engländer, die auch ihren Rucksack erfreut
hingeschmissen haben, Schulterklopfen und noch ein Gläschen und Donnerwetter,
der geht aber in den Kopf so am frühen Morgen, und wie heißt das bei euch in
Finnland, ach „kippis“, — na dann also kippis auf die beiden Pilgerbrüder aus
dem Norden, und auch ein bisschen in die Feldflaschen, das stärkt unterwegs,
und wo hast du dich eigentlich
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