Auf dem spanischen Jakobsweg
mal meinen
Körper auf der warmen Erde lang aus, ziehe die Schnüre meiner Schuhe wieder fest,
setze meinen Rucksack auf und wandere, meinen Pilgerstock schwingend, wieder
durch die endlose Stille und Schönheit dieses Landes. Kein Windhauch, kein
Vogelruf, nur das ewige Sirren der Zikaden. Allmählich führt der Weg bergauf,
die Felder sind hier teilweise schon umgepflügt. Steine, überall Steine, die
roten Sandsteine der Rioja. Aber dort oben, auf der kleinen Anhöhe vor mir,
wachsen wieder ein paar Bäume, verkümmert zwar, mehr Busch als Baum.
Unmittelbar am Fuß dieser Anhöhe, bevor mein Weg eine Biegung in den Berg
hinein macht, stehen „Pilgermännchen“ aus rotem Stein und in solchen Massen,
wie ich es bislang noch nicht gesehen habe. Diese Steinmännchen gehen auf einen
Brauch zurück, der bis in die Zeit der Römer zurückreichen und später von den
Pilgern übernommen worden sein soll. Ein Pilger nimmt einen dicken Stein und
legt auf ihn einen weiteren, der nicht ganz so dick ist. Damit hat er alle
seine Sorgen abgelegt. Aber dann kommt wieder ein Pilger und legt einen noch
etwas kleineren Stein auf die anderen und ist auch alle seine Sorgen los. Und
so geht das weiter, immer höher werden die Männchen. Am Schluss geht nur noch
ein Sandkorn oben drauf, will man vermeiden, dass das Männchen wieder in sich
zusammenstürzt.
Ich lege
meinen Rucksack und meinen Pilgerstock auf die Erde und setze mich zwischen die
vielen roten Wichtelmänner, ich bin unverhofft wieder im Märchenland meiner
Kindheitsträume angekommen. So weit musste ich also gehen, um sie
wiederzufinden. Sie schauen mich, den Fremden, an als wollten sie sagen:
„Siehst du, uns gibt es noch, aber du hast das nicht mehr glauben können, dein
Verstand hat deinen Blick verengt.“
Aber dass
ich sie überhaupt noch zu erkennen vermag, darüber fällt mir doch ein Stein vom
Herzen, und ich lege ihn auf einen erst halb fertigen Wichtelmann, damit auch
er noch ein bisschen wachsen kann.
Etwas später
sehe ich links von mir die nahegelegenen Klosterruinen von San Antón, erreiche
schließlich die Anhöhe, und mein Pfad führt mich wieder durch Rebenfelder und
an Mandelbäumen vorbei, bis sich vor meinen Augen der „Poyo de Roldón“ erhebt,
der „Hügel des Roland“. Da ist er also wieder, unser Held von Roncesvalles und
aus dem Rolandslied. Und genau an diesem Hügel stand er, nachdem er Karl den
Großen um Erlaubnis gebeten hatte, den Kampf gegen den Riesen Ferragut, einen
Sohn Goliaths, aufnehmen zu dürfen. Dieser Bösewicht hielt damals nämlich viele
christliche Ritter im nahen Nájera in Fesseln. So stieg denn Roland auf diesen
Hügel hinauf, erspähte von dort Ferragut, hob einen gewaltigen Stein auf und
schleuderte diesen bis Nájera, wo der Stein dem Riesen den Schädel
zertrümmerte. Andre meinen sogar, Roland hätte den „Poyo de Roldán“, also den
ganzen Hügel hochgehoben und Ferragut damit zermalmt. Und wieder andere
behaupten, die beiden Kämpen hätten ihren Zweikampf unterbrochen und über
theologische Fragen diskutiert. Dabei hätten sie sich darauf geeinigt, dass
nach Wiederaufnahme des Kampfes derjenige siegen möge, dessen Religion die
einzig wahre ist. Sie haben also weitergekämpft, und es kam so, wie es kommen
musste: Roland tötete Ferragut, aber diesmal nicht mit einem Stein, sondern mit
einem Stich in den Nabel, der einzig verwundbaren Stelle des schrecklichen
Riesen.
Mit
Schaudern gehe ich weiter gen Nájera, ängstlich darauf achtend, dass mir nicht
plötzlich ein Stein oder vielleicht der ganze Berg um die Ohren fliegt oder
sich gar jemand an meinem Nabel zu schaffen macht. Schweißgebadet komme ich
endlich in Nájera an.
Falkenjagd in
Nájera
Der Name
Nájera kommt aus dem Arabischen und bedeutet so viel wie „Ort zwischen den
Felsen“, vielleicht könnte man das aber auch mit „Felsennest“ übersetzen. In
der Tat wird dieses Städtchen auf seiner einen Seite, nämlich dort, wo sich das
Flüsschen Najerilla seinen Lauf gesucht hat, von steil wie eine Mauer in die
Höhe ragenden roten Felsen abrupt begrenzt.
In der
Geschichte hat Nájera eine Rolle gespielt, die man heute nicht auf den ersten
Blick zu erkennen vermag, eine Geschichte übrigens, die eng mit dem Jakobsweg
verflochten ist. Bereits im Jahr 923 wurde der Ort von einem Ritterheer aus
León und Navarra den Mauren wieder aus den Händen gerissen und knapp hundert
Jahre später sogar für einige Zeit zur Residenz der Könige
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