Auf dem spanischen Jakobsweg
Spaniens
größtem Weinanbaugebiet. Wir werden heute und morgen noch viele Kilometer durch
diese Rebenlandschaft wandern. Aber auch hiermit werden wir nur einen kleinen
Teil der Rioja durchstreifen. Der Wein, der hier wächst, meist roter, hat eine besonders enge Beziehung
zum Bordeaux-Wein. Denn nach der Reblaus-Invasion in Frankreich in den
siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts wanderten viele französische Winzer in
die Rioja aus und bauten hier, obgleich unter anderen Bedingungen, ihren Wein
an. Das Heimweh aber blieb ihnen. Als sie schließlich auch in der Rioja von der
Reblaus eingeholt wurden, gingen sie in die alte Heimat zurück. Viele ihrer
Kenntnisse darüber, wie man einen ordentlichen Wein keltert und ausbaut, blieben
hier in der Rioja hängen. Und Hugh Johnson, ein führender Weinautor unserer
Tage, übrigens ein Engländer, meint, dass die Rioja-Weine zart und im richtigen
Alter duftig und fein ausfielen, aber eine leicht sonnengedörrte Süße besäßen,
die ihre spanische Herkunft verriete.
Jetzt,
anfangs September, da wir durch die Rioja pilgern, sind die blauen Trauben
reif, prall und süß und für uns so zum Greifen nahe, dass auch ein frommer
Pilger ihren Verlockungen erliegt.
Elende Kerle
und brave Männer in den Amtsstuben
Auf meinem
weiteren Weg, der heute in der Pilgerherberge von Nájera enden soll, komme ich
unmittelbar vor dem Ort Navarrete an das ehemalige Pilgerhospital San Juan de
Acre. Bereits um das Jahr 1200 erbaut, gleicht es heute einem Ruinenfeld aus
der griechischen Antike und kann nur noch seine Grundmauern herzeigen. Auf
einem dieser Steine sitzt das zierliche Ehepaar aus Frankreich, das wir schon
seit dem Kloster Roncesvalles kennen. Ich winke ihnen freundlich zu und siehe
da, Monsieur legt auch schon langsam seine Scheu ab und winkt zurück, seine
liebenswürdige Frau hatte mit solchen Gesten von Anfang an keine Probleme. Weil
auch mich Hunger und Durst plagen und weil in dem Ruinenfeld der alte
Pilgerbrunnen, vielleicht irgendwann einmal restauriert, noch immer Wasser hat,
setze auch ich mich dorthin und packe Weißbrot und Schinken aus.
Etwas
später, hinter Navarrete, stoße ich auf der linken Seite des Pilgerweges auf
einen größeren Friedhof, der allerdings abgeschlossen ist. „Schade“, murmle ich
vor mich hin, „da würde ich gerne mal reingehen“ und versuche durch das Gitter
aus Eisen wenigstens einen Blick hineinzuwerfen. Doch fällt mir plötzlich auf,
dass ich vor einem großen, romanischen Portal stehe. Oben in der Mitte eine
Rosette, darunter das Gewände mit auf jeder Seite fünf wie aneinander geklebten
Säulen, die, einem Trichter vergleichbar, nach innen führen. Gemessen an den
bescheidenen Friedhofsmauern wirkt dieses Portal so, als hätte es irgendwann
einmal seine Kirche im Stich gelassen und wäre allein hierher gewandert. Ich
setze mich ins Gras, trinke erst einmal Wasser und entnehme dann meinem Pilgerführer,
dass es sich um den Portikus jenes ehemaligen Pilgerhospizes handelt, zwischen
dessen kümmerlichen Resten am anderen Ende von Navarrete ich vor einer halben
Stunde noch Rast gemacht hatte.
Auf meinem
weiteren Weg überkommt mich großer Groll und giftige Gedanken dringen in mein
Herz. Denn der Pilgerweg führt jetzt viele Kilometer unmittelbar an der
vielbefahrenen Nationalstraße Nr. 120 entlang. Ich muss durch eine sich
pausenlos erneuernde Wand von Lärm und Gestank stapfen, für jeden Wanderer eine
viel größere Qual als Hitze, Durst und müde Füße. „Welche elenden Kerle“, so
frage ich mich, „haben sich für den Camino eine solche Streckenführung
ausgedacht?“ Erst fluche ich, dann bete ich: „Heiliger Jakobus, ergreife noch
einmal dein schon bei Clavijo so erprobtes Schwert, schwinge dich auf dein
weißglänzendes Pferd und reite mit einem Feuerschweif hinein in die Amtsstuben
dieser elenden Kerle und...“ Aber da fällt mir gerade noch rechtzeitig ein,
dass die Gedanken und Gebete eines frommen Pilgers von Sanftmut und
Nächstenliebe erfüllt sein müssen. Und dass diese elenden Kerle in den
Amtsstuben sicher brave Männer sind und für uns Pilger nur das Beste wollen,
wenn sie uns hier entlang leiten und uns so von unserem Alleinsein auf diesen
endlosen Pfaden durch die schreckliche Einsamkeit und die so beängstigende
Stille der Natur erlösen wollen. Vielleicht, so überlege ich, wollten sie
hiermit ermöglichen, dass Pilgermänner schönen Frauen und Pilgerfrauen schönen
Männern zuwinken
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