Auf dem spanischen Jakobsweg
zu begreifen, warum die
Spanier die Zerstörung dieser alten Kulturgüter zulassen. Nach etwa 16
Kilometern, Paolo ist jetzt weit hinter mir, erreiche ich Calzadilla de la
Cueza und an einem Brunnen gibt es kaltes, frisches Wasser. Leider aber muss
man jetzt bis Ledigos gute sechs Kilometer wieder auf der vielbefahrenen
Nationalstraße Nr. 120 laufen. Schon nach ein paar hundert Metern habe ich
genug davon, verlasse diese Straße und laufe nach links über Trockenwiesen auf
gut Glück ins Land hinein. Erst geht es ziemlich holprig vorwärts, aber dann
stoße ich auf einen alten Weg und stehe auch schon vor den Mauern des einstigen
Klosters Santa María de las Tiendas, einer ehemaligen Abtei und früherem Hospiz
der Ritter des Santiago-Ordens. Der endgültige Verfall der großen Gebäude wird
nicht mehr lange auf sich warten lassen. Oft steht man am Jakobsweg vor
historisch interessanten Bauwerken oder sonstigen Kulturgütern, die leider
keine Überlebenschance haben, weil zu ihrer Rettung kein Geld vorhanden ist.
Andererseits wäre es in den Augen einiger Potentaten wohl eine ganz und gar
ketzerische Idee, sich vorzustellen, dass man das — auch aus Europa kommende —
Geld, das man für die Zerstörung von historischen Römerstraßen und alten
Pilgerwegen verpulvert, für die Konservierung und Renovierung unschätzbarer
Kulturgüter am Jakobsweg aufwenden könnte, um zu verhindern, dass diese
Zeugnisse abendländischer Kultur vollends verrotten und dass man hiermit sogar
ein langfristiges Beschäftigungsprogramm — von vielen einfachen
Reinigungsarbeiten bis hin zu diffiziler Renovierung — auflegen könnte und dies
für viele Menschen in ihrer armen und schwach strukturierten Heimat.
Nein, nein,
junger Mann, so dummes Zeug wollen wir erst gar nicht denken, noch dazu, wo das
doch den großen Bauunternehmern gar nicht konvenieren würde, schauen sie mal,
wie besorgt die schon ihre Stirn in Falten legen, diese soignierten Herren.
Beschäftigungsprogramme? Profit müssen die machen, Profit, dann geht auch alles
andere im Land gut, das war immer so, glauben sie es mir. Mit diesen neuen
prächtigen Wegen hat sich das alles auch für die Landwirtschaft gut angelassen,
drei große Traktoren können jetzt nebeneinander fahren. Was glauben sie, wie das
früher war? Nur einer, ich sage Ihnen: nur einer hatte da Platz. Diese Sachen
müssen wir weiter betreiben. Aber keine Programme für diese alten Kirchen und
den anderen alten Plunder. Geht ja ohnehin niemand mehr in die Kirche, auch in
Spanien nicht. Na ja, die paar alten Leute vielleicht. Aber für die brauchen
wir doch keine Kirchen renovieren. Die Pilger sind doch froh, dass sie jetzt
auf geraden und planierten Wegen und ohne über Steine zu stolpern gemütlich
nach Santiago Spazierengehen können, richtig bequem nämlich, alle Leute können
das jetzt, Tante Resi und Onkel Schorsch zum Beispiel, klar, ich weiß, dass die
sehr dick sind, aber eben auch furchtbar fromm, und jetzt geht das eben mit der
Pilgerei, wenigstens ab und zu mal ein paar Kilometer am Tag, das genügt ja
auch, um das richtige Pilgergefühl zu bekommen. Wie gut, dass wenigstens die
Kirchenoberen keinen Tamtam machen, wenn schon die kleinen Pfarrer und auch ein
paar Mönche am Camino ihren Mund nicht halten können von wegen alte Pilgerwege
zerstören. Aber was verstehen die denn schon vom Pilgern. Seien wir doch mal
ehrlich, ein richtiger Pilger will so schnell wie möglich an das Grab des
Heiligen Jakobus und nicht auf diesen einsamen Pfaden herumstolpern. Die richtigen Pilger, die ganz
echten, wollen in Fünferreihe laufen und fromme Lieder singen oder gemeinsam
den Rosenkranz beten. Die Römerstraßen kann ja ohnehin niemand mehr benutzen,
jetzt, wo man überall mit diesen großen Maschinen herumfährt. Sind völlig
überflüssig geworden, diese Römerstraßen, also weg damit, weg, schnell weg.
Nein, nein, junger Mann, nicht naiv sein. Beschäftigungsprogramme? Das ist doch
Quatsch aus der sozialistischen Klamottenkiste. Aber damit ist es ja Gott sei
Dank vorbei. Wer keine Arbeit hat, soll seinen Hintern hochheben und nach
Madrid gehen. Oder ins Ausland. Verstehen Sie mich doch!
Kurz hinter
dem ehemaligen Kloster verläuft ein breiter Bach, den man, da er jetzt nur noch
seichtes Wasser führt, mühelos in einer Furt überqueren kann. Ich aber habe
Hunger und Durst und setze mich in den Schatten der Bäume, die hier den Rand
des Baches säumen. Mit animalischer Lust trinke ich Wasser aus meiner
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