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Auf dem Weg nach Santiago

Auf dem Weg nach Santiago

Titel: Auf dem Weg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Noel Pierre / Gurgand Barret
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davon
gesprochen, endlich aufzubrechen. Da mußte es ja eines Tages Wirklichkeit
werden. Sie könnten schneller gehen, aber sie machen vernünftigen Gebrauch von
ihrer Freiheit. Sie suchen das beste Marschtempo, versuchen vergeblich, ihren
unterschiedlichen Schritt aufeinander abzustimmen, schütteln sich ihren
schweren Rucksack zurecht und halten jetzt schon ihre Zehen
für den Nabel der Welt. Und da schließlich nichts einfach ist, haben sie sich
bereits verlaufen und irren mit dem Kompaß in der Hand kreuz und quer im Wald
herum. Aber wir wollen sie nicht beklagen.)
     
    Gemeinsames Wegtagebuch, Donnerstag, 21. April.
    Drei Tage, hundert Kilometer. Am ersten
Abend waren wir zu müde, um draußen zu schlafen; wir flüchteten uns in Varzy in
ein kleines Hotel. Die Füße schmerzten. Am zweiten Abend breiteten wir unsere
Schlafsäcke in einem Wald, den zu betreten eigentlich verboten war, auf den
Boden; wir hätten keinen Schritt mehr machen können. Unter den großen Eichen
haben wir wie Murmeltiere geschlafen. Dritte Nacht: im Stroh einer Scheune.
Hühner und Nester, Ziegen, Kühe, Hunde und Tauben. Der Bauer, der uns aufnahm —
nachdem man uns zuvor einige Türen vor der Nase zugeschlagen hatte — , war geradeheraus und ein ziemlicher Spaßvogel. Er kannte
Santiago de Compostela nicht, war aber damals beim Einmarsch der deutschen
Truppen in den Schuhen eines anderen davongelaufen und hatte für alle Zeiten
Mitleid mit wunden Füßen.
    Lange vor unserem Aufbruch nach Compostela
schon hatten wir beschlossen, zu trainieren, aber daraus ist nie etwas
geworden; wir waren zutiefst überzeugt, daß sich das ohne großen Schaden schon
machen werde. Ein paar schwierige Augenblicke müsse man durchstehen, und alles
würde schon gehen.
    Wir unterschätzten die vereinten
Wirkungen der Entfernung (zwischen dreißig und fünfundvierzig Kilometer
täglich), des Rucksackgewichts (zwölf Kilo Übernachtungsausrüstung und
Kochgeschirr, Kleider zum Wechseln, Kleinkram und, falls nötig, Nahrungsmittel)
und der ständigen Anstrengung. Unsere armen Körper krachten während der ersten
Tage in allen Fugen wie alte Kähne auf stürmischer See.
    Zur Zeit, da der Weg nach Compostela
belebt war, säumten ihn Hospize, Gasthäuser und Klöster. Hier hielten die
Pilger an, um sich zu stärken. Denn auch ihnen taten die Füße weh. Wir wissen
es, ihre Gesänge sprechen davon, die Herbergsverzeichnisse erwähnen
Pflegemaßnahmen: Einreiben mit Stechwinde oder einem Aufguß aus
Brombeerblättern, auf geschwollene Knöchel den Extrakt der Iriszwiebel; von den
Dornen, die man aus dem Fuß zog, wie es ein Kapitell in einer Kirche von Melle
zeigt, ganz zu schweigen.
    Gewisse Herbergen am Endpunkt
schwieriger Tagesetappen konnten die Pilger für bis zu drei Tage aufnehmen. Im
allgemeinen aber mußten sie anderntags wiederweiterziehen. »Ultre’ia !« riefen sie. Weiter! Vorwärts! Auf diesem Weg von Vézelay
her gibt es keine Herbergen, keine Klöster und keine Santiagopilger mehr. Es
schien uns manchmal, uns, die wir die vorschriftsgemäße Muschel tragen, als
seien wir aus einer anderen Welt. Zwei- oder dreimal glaubten einige Buben
wegen unserer Rucksäcke, wir seien irrtümlich vom Himmel gefallene
Fallschirmspringer! Armer heiliger Jakobus. So vergessen nach solchem Ruhm!
     
    Tagebuch Jean-Noel Gurgand, Freitag, 22. April.
    Mittagsschläfchen am Wegrand. Sonne.
Heute abend Bourges. Ich merke mit Schrecken, nicht mehr weiter zu schauen als
bis an die Spitzen meiner Schuhe. Ich habe ausgerechnet, daß ich von einem
Kilometerstein bis zum anderen im Durchschnitt eintausendeinhundertvierzig
Schritte brauche. Für zehn Kilometer also elftausendvierhundert Schritte.
Hundertvierzehntausend für hundert Kilometer und eine Million
hundertvierzigtausend für tausend Kilometer. Das ergibt für den ganzen Weg fast
zwei Millionen Schritte. Was bedeutet, daß ich in weniger als zwei Monaten
jeden meiner Füße eine Million mal auf den Boden
setzen werde, und mehr als die Hälfte davon auf den mörderischen Asphalt der
National- und Gemeindestraßen. Pierre leidet an Sehnenzerrung; ich selber habe
überall Blasen und dazu noch Krämpfe in der Fußsohle.
    Immer noch frage ich mich, was ich denn
eigentlich mit der ganzen Sache zu tun habe. Vielleicht werde ich erst am Ziel
unserer Wanderung die Gründe verstehen, die mich dazu trieben. Aber nein! Ich
habe nie geglaubt, daß erst das Ziel dem Weg, erst der Tod dem Leben seinen
Sinn gibt. Ich weiß nur eines:

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