Auf dem Weg nach Santiago
Ich werde bis zum Ende durchhalten. Das steht
außer Frage.
(Es handelt sich hier, meine Damen und
Herren, um einen jener »schwierigen Augenblicke«, die man durchstehen muß; sie
waren darauf gefaßt und werden sie auch überwinden. Wir wollen nicht
dramatisieren. Übrigens, und das muß klar gesagt werden: Der Schmerz erscheint
ihnen als das Geringste, selbst wenn seine vielfältigen Formen und seine
Dauerhaftigkeit sie überraschen. Es bleibt ihnen ja von der christlichen
Erziehung her die Überzeugung, daß der Wert einer Tat genau im gleichen
Verhältnis zu ihrer Schwierigkeit steht. Die Erbsünde steckt ihnen im Blut: Sie
werden ihr Heil im Schweiß ihrer Füße machen. Wie oft haben sie als Kinder die
Rippe Schokolade abgelehnt, ein »Opfer«gebracht, »Buße« getan, damit Gottes
Gnade endlich die Bösen rühre oder damit der Lehrer einen anderen frage! Der
Handel war klar: Je schmerzlicher es ist, desto eher habe ich Aussicht, erhört
zu werden. Eine Wallfahrt ohne Blasen an den Füßen — das ist ein Bummel. Das ist
nichts wert.
Unterdessen fallen sie bei jeder
Marschpause in die Straßengräben wie Flüchtlinge bei Bombenangriffen. Sie
kramen ihren Vorrat an magischen Salben, Arzneifläschchen, Verbandszeug,
Fußpuder für Pilgerneulinge aus dem Rucksack. Der Mann, der seine Schuhe
schneller auszieht als sein Schatten, dieser Mann heißt Pierre Barr et.
In wessen Namen ertragen sie das alles?
Sind sie Masochisten? Hinter zuelcher Erlösung rennen sie her? Sie haben keine
Zeit, darüber nachzudenken. Die R ichtung ihrer Schritte weist für den
Augenblick nach Südwesten bis Pamplona, von dort geradeaus nach Westen.)
Gemeinsames Wegtagebuch, Samstag, 23. April.
Wir haben Bourges verlassen und sind in
Charost (Departement Cher) angekommen; hier wollen wir zu Mittag essen. Müde.
Gegenwind. Drohendes Gewölk. Im Hotel-Restaurant (wir versuchen, einmal am Tag
warm zu essen) haben wir beim Nachtisch beschlossen, für den Tag hier zu
bleiben und sogar zu übernachten nur in der Absicht, nicht mehr die Nase
hinauszustrecken. Riesige Enttäuschung: Eine Hochzeitsgesellschaft hat alle
Zimmer reserviert. Das Wirtshaus nebenan, an das man uns weist, schließt am
Samstagabend. »Vor Issoudun ist nichts zu finden«, antworten uns alle, die wir
fragen. Issoudun ist noch dreizehn Kilometer entfernt, drei Stunden Weg.
Ausgeschlossen.
Leere Straßen an diesem beginnenden
Samstagnachmittag. Quadratischer Platz, von Kastanienbäumen gesäumt. Seite an
Seite das Rathaus und eine Kirche aus rötlichem Stein. Wir sind
übereingekommen, uns bei der Hochzeit auf die Lauer zu legen: Es wird doch wohl
möglich sein, in der allgemeinen Fröhlichkeit unter den Honoratioren, dem
Bürgermeister und dem Pfarrer einen Mann ausfindig zu machen, der uns
Unterschlupf für die Nacht gewährt.
Wir haben uns ins nasse Gras gesetzt.
Straßenjungen sind hergelaufen. Zwölf bis vierzehn Jahre alt, mit einem Ball
und Fahrrädern. Unser Alter haben sie wohl nicht erraten: Leute in den Vierzigern
gehören nicht mehr zu den Randexistenzen. Ohne Umschweife fragen sie uns, was
wir hier treiben, bieten uns Zigaretten an, Kaugummi, Karamelbonbons. Einer von
ihnen schlägt vor, nachzusehen, ob das Stadion offen sei, wir könnten dann dort
unter den Tribünen übernachten — er habe das selber einmal gemacht.
Der Bürgermeister ist herangekommen,
schwer und steif, zusammen mit seinem Stellvertreter. Ein Dach? Einen Platz in
einer Scheune? Einen Windschutz? Nein, so etwas gebe es nicht in seiner
Gemeinde. Dicke, sorgenvolle Stirnfalten zwischen dem bürstenförmigen Haar und
den buschigen Augenbrauen. Weiter weg auf der Straße nach Issoudun würde sich
sicher etwas finden lassen. Endloses Schweigen, ausweichende Blicke. Wagen
fahren einer nach dem anderen heran und halten bei der Kirche. Lange Kleider in
zarten Farben schlüpfen heraus, wehen im Wind, spielen ein unwirkliches und
rührendes Ballett wie in einem Schweizer Film. Die Stunde der Zeremonie naht.
Dem zweiten Bürgermeister ist schließlich etwas eingefallen, sein Gesicht hellt
sich plötzlich auf. »Das Gemeindewaschhaus!« Zweifellos hatte der erste
Bürgermeister selbst schon daran gedacht, hat es aber nicht zu sagen gewagt.
Jetzt preist auch er die Ware an: »Ja, freilich, das Waschhaus! Es wird nicht
mehr benutzt und hat sogar Aborte !«
Eric und Didier haben uns begleitet;
sie schoben ihr Rad neben uns her. Dann haben sie uns eingerichtet, haben zwei
Kisten und einen
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