Auf dem Weg nach Santiago
er nicht gesonnen,
nach einem Jahr Pilgerschaft so kurz vor zu Hause aufzugeben. Bei Douai »haben
die Franzosen und die Burgunder einander heftig bekämpft und sich gegenseitig
getötet«, so daß alle Bewohner der Dörfer in den Kirchen nächtigen; nur er
allein, zusammen mit Sire Guillaume, schläft diese Nacht »in einem sehr guten
Bett«. Doch nun verläßt ihn sein Gefährte »unter Tränen«, um in seine Pfarrei
zurückzukehren. Jean de Tournai ist auf dem letzten Abschnitt der Reise allein;
er atmet Heimatluft, interessiert sich für die Schwankungen der Währung während
seiner Abwesenheit, für die steigenden Preise für Hopfen und Krapp. Und dann...
»Die gute Stadt Valenciennes lag vor
mir. O Gott, welche Freude! Er allein weiß, wie damals mein Herz jubelte !« Schon erkennt ihn der eine oder andere, trotz seines
langen Barts und des Zustands seiner Kleidung. »Willkommen in der Heimat !« ruft man ihm zu. Er schickt Leute in seine Wohnung, ihm
Schuhe herzubringen. Er will einen würdigen Einzug halten. Die Nachricht von
seiner Heimkehr geht wie ein Lauffeuer durch die Stadt:
»Ich glaube, es waren mehr als drei-
bis vierhundert Leute, die mir entgegeneilten, sich an den Straßen sammelten
und auch zu mir ins Haus kamen, um mich zu sehen; sie bereiteten mir nicht nur
ein Fest, sondern ein wahrhaft großes Fest. Auf diese Weise also bin ich am
Abend zwischen fünf und sechs Uhr nach Hause gekommen. Hier fand ich, Gott sei
Dank, meine Frau und meine Schwiegermutter in guter Gesundheit; sie empfingen
mich mit großer Freude und großer Liebe und auch großer Ehrerbietung, Gott weiß
es, Er, der da lebt und herrscht von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.«
So geschehen am Samstag, dem 7. März
1489, am Ende einer Reise von einem Jahr und elf Tagen. Der Bericht schließt
mit Feiern und Festessen für Jean de Tournai, gestiftet von seinen »guten
Freunden«, und mit einem Mittag- und Abendessen für 47 Personen, das er ihnen
im Gegenzug gibt.
Jean de Tournai stirbt zehn Jahre darauf, 1499. Sein Grabstein nennt ihn »weise und klug«. Er war ein
Mann von feiner Lebensart. 4
Mit voller Flasche und drei Pfund Brot
im Beutel hat Bonnecaze das Spital in León verlassen, um dort nicht zu sterben.
»Ich mußte mich beim Durchqueren der Stadt mehr als fünfzigmal niedersetzen;
mit der Zeit gelangte ich zu dem Marktflecken am anderen Ende der Nay-Brücke;
man brachte mich am Abend bei einem Bauern in einer Scheune unter; ich schlief
auf trockenem Stroh bis zehn Uhr morgens; dann stand ich auf und ging weiter.
An diesem Tag wanderte ich eine halbe Wegstunde. [...] Die Kräfte kamen mir
wieder zurück. [...] Fast jeden Tag verdoppelte ich meine Strecke; da ich
allein war, verlor ich keine Minute. Schließlich schaffte ich zehn Wegstunden
am Tag .« Als er durch Logroño kommt, gibt ihm eine
Witwe »aus Erbarmen« ein Paar Schuhe. Er rechnet nach: Ja, er ist
hundertachtzig Wegstunden barfuß gewandert. (Das sind mehr als siebenhundert
Kilometer.)
»Als ich an der Grenze von Obernavarra
angekommen war, machte ich auf einem Berg zwei Stunden Rast, um die Luft
Frankreichs einzuatmen. Sie gab mir Kraft, öffnete mir das Herz; ich hatte den
Eindruck, mein ganzes Leid verlasse mich in diesem Augenblick. Ich hielt nur
noch an, um etwas Brot zu betteln, damit ich weiterleben könne. [...] Als ich
endlich am F uß des Passes das erste französische Dorf erreichte — es ist da
ein Bach, der die Königreiche Frankreich und Spanien trennt — , da machte ich
mit einem Stab ein Kreuz und gelobte, nicht mehr hierherzukommen, um nach
Santiago zu pilgern. Ich war froh, dem spanischen Elend entronnen zu sein. Ich
durchquerte Navarra in Richtung Navarrenx und Oloron, und als ich zu den
Quellen von Buzy kam, setzte ich mich unter einen Baum und zog meine Kleider
aus, um sie zu reinigen; ich schüttelte die Läuse heraus, denn diese spanischen
Reliquien wollte ich nicht zu meinem Vater mitschleppen.«
Bonnecaze erreicht das Ziel seiner
Reise. Es ist August. Er wandert schon seit drei Monaten. »B’ei meiner Ankunft
traf ich meine Schwester am Bach Luy, in der Nähe des Dorfes. Ich grüßte sie,
und sie umarmte mich; es war etwa drei Uhr nachmittags. Sie nahm meinen
Rucksack, der nicht schwer wog, denn ich hatte meine Hemden verkauft, um leben
zu können. Ich fand meinen Vater und meine Mutter meinetwegen gramgebeugt. Man
hatte ihnen nämlich gemeldet, ich sei tot. Als ich eintrat, sprachen sie gerade
von mir. Ich umarmte sie weinend;
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