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Auf dem Weg nach Santiago

Auf dem Weg nach Santiago

Titel: Auf dem Weg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Noel Pierre / Gurgand Barret
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seinem Mundwerk, von dem schallenden
Lachen und den Streitereien Maniers und seiner Gefährten, von den Leiden des
kleinen Bonnecaze, den Federbetten eines Pilgers mit Namen Jean de Tournai, von
den Sklaven des Herrn von Zielbeke, den Tränen Laffis, als er Compostela zum
erstenmal erblickte. Sie alle werden lange Zeit in Ihrem Gedächtnis bleiben.
    Aber das Wesentliche ist das nicht. Das
Wesentliche können Sie gar nicht sagen. Zuweilen, wenn Sie still im Bett liegen
und mit offenen Augen in die Nacht schauen, scheint es Ihnen, Sie seien noch
unterwegs, gleich jenen vor dem Kaminfeuer eingeschlafenen Hunden, die träumend
irgendeinem prächtigen Wild nachzujagen scheinen. In solchen Augenblicken, wenn
Sie der Weg wieder einholt, drückt Ihnen etwas das Herz zusammen.
    Sie hatten sich zum Heiligtum des Herrn
Jakobus aufgemacht. Sie wollten sich auf die eine oder andere Weise
rückversichern für den Tag, da die Seelen gewogen werden. Sie sind den
zeitlosen Weg gegangen hin an den Rand des Abendlandes; Sie folgten dem Lauf
der Sonne am Tag und der Milchstraße in der Nacht — und da haben Sie
irgendwann, rechtschaffen müde, wie sie waren, eine Ahnung dessen verspürt, was
über das bloße Menschsein hinausgeht.

EIN GRAB IN SPANIEN
     
     
     
     
    A m Ende einer fünfzigtägigen Wanderung
nach Compostela wieder in Paris angekommen, haben wir im Nouvel Observateur einige Reiseeindrücke veröffentlicht. Wir fügen sie auf den folgenden Seiten
unserem Buch an, freilich ohne die rein geschichtlichen Erwägungen, die hier
nicht mehr am Platze sind.
    Pierre Barret
und Jean-Noel Gurgand (1977)
     
     
    Gemeinsames Wegtagebuch, Dienstag, 19. April 1977.
    Wir haben Vézelay um sechs Uhr morgens
verlassen. Es ist kaum hell genug, um die Karte lesen zu können. Unsere nagelneue
»Großwandererausrüstung« — schweres Schuhwerk, Rucksack, Anorak (rot) — und
unsere Eigenschaft als Pilger drücken uns einigermaßen unbehaglich. Sehr
schnell, gleich nach dem Bauernhof mit Namen »La Justice« (Die Gerechtigkeit),
haben wir die Straße verlassen und sind in den Wald eingebogen. Am Ende des in
seiner fahlen Unbestimmtheit vor uns liegenden Weges, eintausendsiebenhundert
Kilometer weiter, sind wir mit dem »heiligen Herrn Jakobus« verabredet.
    Natürlich hatten wir alles über
Compostela gelesen, was sich auftreiben ließ, und das Zeremoniell des einstigen
großen Aufbruchs war uns vertraut: der feierliche Segen über Stab und
Pilgertasche, die von der versammelten Gemeinde inbrünstig im Wechsel
gesungenen Psalmen, die Abschiedsgrüße und Abschiedswünsche... Die Pilgergruppe
verläßt die Basilika Sainte-Marie-Madeleine, geht die Rue-Grande hinunter... Dort unten, nach Tagen und Tagen, am Ziel der Mühen und
des frommen Eifers, dort unten liegt Jerusalem oder Compostela — das Heil.
    Wir haben uns ein- oder zweimal
umgedreht: Die Basilika lag hinter uns im blauen Dunst, tief in ihre
Erinnerungen versunken.
    Vézelay haben wir ohne lange Diskussion
gewählt. Wir fühlten dunkel, daß wir hier vor langer, langer Zeit irgendwie
geboren sein müssen. Vézelay ist eine unserer heimlichen Hauptstädte.
    Wir sind in den Wald von Ferneres
vorgedrungen mit dem Gefühl, eine neue Welt zu betreten. Gedämpftes Licht,
Humusgeruch. Die Vögel machen im Unterholz einen Lärm wie im Urwald. Es ist
voller Tag geworden. Unser erster Tag. Ein schöner Tag.
     
    (Meine Damen und Herren, Sie waren
soeben Zeuge des Aufbruchs zweier Pilger ohne Segen. Sehen Sie, die beiden
können es gar nicht fassen, nun auf dem Weg zu sein. Während sie dahingehen,
sehen sie sich selbst wandern und fragen sich, wohin das führen mag. »So
aufgebrochen sein, daß man nicht mehr zurückkommen kann«, sagt Claudel einmal.
Und wenn das wahr wäre?
    Seit sie sich mit dem Mittelalter
befassen, haben sie sich geschworen, eines Tages ihren
Fuß in die Spuren ihrer Vorgänger zu setzen. Sie könnten dazu eine Menge guter
Gründe Vorbringen: die Wiederentdeckung der Zeit und des Raums, wie sie vordem
Motorenzeitalter waren, die tiefe innere Bewegung, die siejedesmal erfaßt, wenn
ihnen auf den ausgefahrenen Wegen ein abgenutztes Werkzeug odereine abgetretene
Schwelle unter die Augen kamen. In Wirklichkeit drängt sie Unruhe; sie gleicht
ganz jener, die Pilger und Kreuzfahrer auf die Straßen trieb. Unsere beiden
geben das nur schwer zu. Sie meinen lediglich, es sei, wenn man in die Vierziger
kommt, höchste Zeit, sich anderswo umzusehen...
    Immer wieder haben sie

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