Auf dem Weg nach Santiago
Vorteil, daß man sie anfassen kann.
Der berühmte französische Radrennfahrer
Raymond Poulidor ist in Saint-Léonard-de-Noblat geboren. In der Gunst des
Volkes hat er den ehemaligen Stadtpatron ausgestochen; doch die Volksgunst
drückt sich immer noch wie früher aus: An den Abenden der Tour de France drängt
man sich noch immer, um »Sankt Poulidor« zu berühren.
Limoges war nur mehr fünf Meilen
entfernt, und sein Schutzpatron, der heilige Martial, rechtfertigte durch
seinen außergewöhnlichen Lebenslauf den Umweg: Als Kind hat er an der
wunderbaren Brotvermehrung teilgenommen, der Auferweckung des Lazarus
beigewohnt, bei der Fußwaschung das Handtuch gehalten und beim Abendmahl als
Kellner gedient; später hat er im französischen Limousin das Evangelium
verkündet. Uns gegenüber hat er sich entsprechend gezeigt.
Wir sollten in Limoges mit einer
Korrespondentin des »Centre d’Études compostellanes« zusammentreffen. In der
vorhergehenden Woche hatten wir telefoniert, um zu melden, daß wir Verspätung
hätten. Wir würden erst am Freitag gegen Abend eintreffen. Eine großartige
Überraschung erwartete uns an der alten Saint-Etienne-Brücke: eine Abordnung
kultureller und folkloristischer Vereine sowie Vertreter der Gemeinde und des
Verkehrsvereins. Sie erweckten für uns die Tradition des Pilgerempfangs zu
neuem Leben. Was für ein Abenteuer! Der Zug formiert sich, an der Spitze
kostümierte Leier- und Dudelsackspieler. Die Musik setzt ein. Mit gemessenem
Prozessionsschritt steigen wir zur Kathedrale hinan. Der Erzpriester hat die
Büste des heiligen Jakobus auf den Altar gestellt. Er
spricht einige Gebete — es ist die Rede von Sternen und Reise — und segnet zwei
Muscheln aus Porzellan, die er uns um den Hals hängt. In seiner Begeisterung
läßt er die Glocken läuten — auf die Gefahr hin, den Bischof in Aufruhr zu
versetzen, der nicht benachrichtigt worden ist.
Wir waren am Abend freundlich
eingeladen und speisten für drei Tage; anschließend versanken wir in den
wundervollen Federbetten der christlichen Nächstenliebe. Am anderen Morgen
stand unser Foto drei Spalten breit auf der Titelseite der Zeitung. Ohne diese
augenfällige Versicherung unserer Anwesenheit in Limoges hätten wir vermutlich
zu träumen vermeint.
Tagebuch P. Barret
Wir leben ganz naturnah; seit den
Sommern von einst habe ich mich der Natur nie mehr so nahe gefühlt. Es ist eine
Art Kommunion. Sie erfaßt mein Herz und fasziniert mich: alles, was ich hier
sehe, aber auch alles, was ich hier fühle, vor allem die Art und Weise, wie der
Mensch in zehn oder fünfzehn Jahrhunderten die Landschaft gezähmt hat, um darin
sein Haus und seine Wege einzurichten.
(Es handelt sichhier nicht, meine Damen
und Herren, um die große »grüne« Nummer von zwei Pilgern ohne Pilgerschaft. Es
stimmt, dieser Frühling blufft sie. Zwischen dem Departement Creuse und dem
Périgord sind sie Zeuge einer Wiedergeburt der Welt. Ungeduldige Lämmer saugen
unter ständigem Stoßen, Zicklein mit goldbraunen Augen und ganze Horden von
Kälbern springen wie junge Hunde umher, Fohlen, Küken, Entchen...Es genügt, daß
vier Wiesel hintereinander über den Weg huschen, und schon machen unsere Pilger
»Oh!« und »Pst!«. Es geht ihnen plötzlich auf, daß sie zwanzig Jahre lang einen
Teil ihrer selbst geopfert haben, entfremdet waren.)
Gemeinsames Wegtagebuch, Samstag, 7. Mai.
Wir sind in diesen Tagen gut vorangekommen.
Wir haben uns von Ballast möglichst befreit. Überflüssig gewordene Karten, vor
der Abreise als absolut notwendig erachtete Kleidungsstücke haben wir mit der
Post nach Hause befördert. Von nun an teilen wir uns Taschenlampe, Zahnpasta,
Seife und Kamm. Was wiegt schon ein Kamm?
Als wir in Savignac im Departement
Gironde vor der geöffneten Tür einer zerfallenen Kirche vorbeikamen, blieben
wir stehen: Die Stimmen alter, psalmodierender Frauen drangen an diesem lauen
Spätnachmittag aus der schattigen Tiefe des Kirchenschiffs zu uns heraus. Wir
haben den Rucksack niedergestellt. Ganz zufällig hatte der Pfarrer, der gerade
die Messe las, von unserem Durchzug gehört.
Er hat uns in seinem Renault 16 bis
nach Castillon in sein Pfarrhaus mitgenommen. Dort hat er uns das Abendessen
bereitet und ein nagelneues Sofa aufgeklappt. Marcel Lamothe ist einer jener
Priester, deren Leben sich durch das Zweite Vatikanische Konzil geändert hat.
Er betreut mit fünfzig Jahren elf Pfarreien, doch interessiert ihn der Glaube
seiner
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