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Auf dem Weg nach Santiago

Auf dem Weg nach Santiago

Titel: Auf dem Weg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Noel Pierre / Gurgand Barret
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wenigstens damit abzufinden. Allmählich haben wir
gelernt, uns für anderes zu interessieren als für uns selber.
    Im Grunde enttäuschte uns eines am
meisten: daß wir den »Weg« nicht fanden — zweifellos ist er in der Saintonge
oder im Béarn sehr viel lebendiger geblieben, so dachten wir. Auf der ganzen Länge
dieser voie limousine (auch Weg der Deutschen genannt und von René
Verbié in seinem Verlauf wieder erstellt) scheint sich die Erinnerung an die
große Wallfahrt verwischt zu haben. Wohl stießen wir auf Jakobuskirchen,
Jakobsstraßen, auf Vororte mit der Benennung Saint-Jacques, hier und da auch
auf eine Muschel an einem Türsturz, einen mit einem weißen Stein
gekennzeichneten Kirchturm. Aber die Zeichen wie auch die Worte haben ihren
Sinn verloren; so wie etwa der Umhang des Schutzmanns oder die coquille des
Setzers oder die von Proust zu Ehren gebrachte madeleine coquillée, das
Gebäck.
    Der sichtbare Weg ist sogar fast
überall verschwunden. Auf den Karten 1: 50 000 des »Institut Géographique
National«, von denen übrigens manche seit 1947 nicht mehr auf den neuesten
Stand gebracht worden sind, haben Hunderte von Hektar Wald riesigen Weizen- und
Rapsfeldern weichen müssen. Mit dem roten Mohn ist auch der geschichtsträchtige
Weg gestorben.
    In dreißig Jahren haben Asphalt und
Flurbereinigung die Landschaft umgekrempelt. Die Wege wurden geteert oder sind
überhaupt nicht mehr da. Dutzendemal mußten wir an plötzlich abgeschnittenen
Pfaden über Elektrozäune oder Stacheldraht klettern. Überall Baumleichen — tot
erscheinen sie noch größer als lebend. Die Forst- und Wasserverwaltung kann den
Hochwald sorgsam überwachen, das Massaker geschieht anderswo, am Straßenrand
zum Beispiel, wo die für Gas- und Stromversorgung zuständige Behörde sowie die
Post die Bäume umhauen lassen und wo die Bauern alles kreuz und quer absäbeln.
Die Zeit der Motorsägen ist angebrochen, eine absolute Waffe; jedermann kann an
einem einzigen Tag eine jahrhundertalte Hecke durch einen ordinären Zaun
ersetzen.
    Und während da unten Motorsägen
hysterisch aufheulen, horchen die Alten und meinen warnend: »Daß die Tiere
hinter Stacheldraht ihren Unterschlupf suchen, das hat man noch nie gesehen...«
     
    Tagebuch J.-N. Gurgand
    Ich habe meine Uhr verloren. Bei einer
Rast habe ich sie liegenlassen. Wir hatten schon fünf Kilometer hinter uns, als
ich es endlich bemerkte. Zurückgehen und sie suchen, das sind zusätzliche zehn
Kilometer, ohne vorwärtszukommen. Undenkbar. Und doch war mir die Uhr etwas
wert. Das hat mich stundenlang beschäftigt. Es ist schwierig, sich an diesen
neuen Wert von Zeit und Raum zu gewöhnen. Trotzdem ist das einzige Maß der
Landschaft der Mensch, denn ohne ihn gibt es keine Landschaft. Noch etwas: Zu
Fuß wird jede neue Wegbiegung zu einer Verheißung — »welche Verheißung ?« hätte Camus gefragt. Achtung, Pilger, ein Horizont kann
einen anderen verdecken.
     
    Gemeinsames Wegtagebuch, Freitag, 29. April.
    Saint-Léonard-de-Noblat war eine im Guide
du pèlerin lebhaft empfohlene, wichtige Etappe. Sankt Leonhard — ein an
übermäßiger Askese auf den Hügeln über der Vienne gestorbener Einsiedler —
besaß die Macht, Gefangene zu befreien; rings um die Kirche hängen an großen
Pfählen Ketten, Halseisen, Joche, Fußfesseln, auch viele Exvotos. Mittels einer
geschickten Erweiterung schreibt man ihm auch die Macht zu, Frauen die
Entbindung zu erleichtern.
    An der Reliquienbörse war das eine
sichere Anlage. Wir können uns heute nur schwer vorstellen, zu welchen
Übertreibungen der wirklich unglaubliche Hang des Mittelalters zur Reliquie
führte. Da wurde von Jesus gekautes Brot gekauft und verehrt, die Windeln des
neugeborenen Jesuskindes oder Milch von der Jungfrau Maria, ganz zu schweigen
von verwirrenden »Mehrfachausgaben«: zwei heilige Leonhards, drei Dornenkronen,
vier heilige Schweißtücher und nicht weniger als zwölf Köpfe des enthaupteten
heiligen Johannes des Täufers. König Ludwig der Heilige ging mit gutem Beispiel
voran: Er ließ in Paris die Sainte-Chapelle erbauen, um seine großartige
Reliquiensammlung unterzubringen. Jede Reliquie besaß ihre besondere Kraft, und
es war nicht immer leicht zu wissen, welchem Heiligen man sich anempfehlen
sollte.
    Die unscheinbarsten Knochen zogen
Pilger und Spenden an und wurden zum Gegenstand von Rivalität, Betrug und Raub.
Denn »die Leiber der Märtyrer haben dieselbe Macht wie deren heilige Seelen«,
mit dem

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