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Auf dem Weg nach Santiago

Auf dem Weg nach Santiago

Titel: Auf dem Weg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Noel Pierre / Gurgand Barret
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Nicolas Flamel nach Santiago? Jedenfalls verbringt er
dort eine kürzere Zeit als in León bei einem Meister der Kabbala. 21
    Hugo, der Erzbischof von Lyon, pilgert
im April 1095 nach Compostela; seine Reise fällt in die Zeit einer
Konzilsversammlung, an der er lieber nicht teilnehmen möchte. Auf diesem Konzil
soll nämlich die Exkommunikation, mit der Hugo König Philipp I. und dessen
Gemahlin belegt hat, aufgehoben werden; die Entscheidung des Erzbischofs ist
recht undiplomatisch gewesen und hat ihm die Enthebung von seinem Amt als Legat
durch Papst Urban II. eingebracht. So würde es sich erklären, warum Hugo das
Konzil schwänzt — es sei denn, seine Wallfahrt wäre im Gegenteil eine durch den
Heiligen Vater auferlegte Buße. 22
    Sogar Guillaume Manier, der Schneider
aus der Pikardie, der uns bis nach Compostela begleiten wird, arrangiert seine
Geschäfte mit Hilfe einer Wallfahrt. Während seiner Militärzeit ist er bei
seinem Hauptmann in Schulden geraten und zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht in
der Lage, sie zurückzubezahlen. 23 Seine Abwesenheit enthebt ihn
einer schwer zu erstellenden Erklärung, und sein Ausnahmezustand als Pilger
bringt überdies seine Familie vor eventuellen gerichtlichen Schritten in
Sicherheit.
    Auch der kleine Bonnecaze hat nicht nur
das Gebet zum heiligen Jakobus im Sinn. Er besteht gegen den Willen seiner Eltern
deswegen so hartnäckig darauf, nach Compostela abzureisen, weil er »den
Entschluß gefaßt [hat], in Spanien zu studieren«; Sankt Jakob ist nach seinem
eigenen Geständnis nur ein »Vorwand«. 24
    Der Pilger Johann Othinger gibt 1417
als Rechtfertigung seiner Bitte um einen Passierschein an, »andere Heiligtümer
besuchen, Länder, Leute und Sitten kennenlernen« zu wollen.
    Forald von Mansfeld läßt sich unterwegs
eine Empfehlung an den König von Granada aushändigen, »um die Synagogen zu
besuchen«. 25
    Diese Neugierde, dieses Verlangen nach
Sehen, nach Wissen, nach Verstehen, dieses Bedürfnis, Natur und Übernatur zu
vereinen, anderswohin aufzubrechen — all dies ist zweifellos ein notwendiger
Ausgleich für die Abgeschlossenheit der Dorfbewohner, für die langen schmutzigen
Winter, während derer die hinter ihren Mauern zusammengepferchten Städter im
Schlamm herumstapfen. Der Nomade der damaligen Zeit ist und bleibt vom Jenseits
fasziniert — vom Jenseits des nahen Horizontes, vom Jenseits des Todes.
Mindestens ebenso stark wie die ihn zum Aufbruch drängende Unbeständigkeit
fühlt er dunkel, daß die Seuchen, die Kriege und die Hungersnöte ihn weniger
leicht einholen können, wenn er voranschreitet. Alle Prediger kennen den
Verweis des heiligen Augustinus auswendig: »Am Tage, da du sprichst: Das
genügt! bist du schon tot. Immer dazu, immer voran, immer weiter. Bleib nicht
auf dem Wege stehen, geh nicht zurück, verlasse nicht die Bahn. Wer nicht
weitergeht, tritt auf der Stelle .«
    Der Pilger kann mit bestem Gewissen dem
geheimen inneren Drang folgen, der ihn hinaustreibt auf den Weg. Alle kommen
hier auf ihre Rechnung: Gott, die Kirche, die menschliche Gemeinschaft und er
selber, der da am Ende der Wallfahrt sein Heil findet.
    Dieser Heilsgedanke wie auch die
Achtung vor dem Eid, auf die sich die gesamte gesellschaftliche Ordnung
gründet, ist so bedeutsam, daß ein Wallfahrtsgelübde unter allen Umständen
eingehalten werden muß, und sei es (im Falle der Verhinderung) durch einen
anderen. So verfügt Bernard Ezi II., Herr von Albret, im Jahre 1341 in einem
Testament:
    »Ich, Bernardet, Herr von Albret, [...]
empfehle meinen Leib und meine Seele Gott und Unserer Lieben Frau, der heiligen
Maria, und dem ganzen himmlischen Hof. [...] Da ich gehalten bin, fünf
Wallfahrten zu machen, eine nach Santiago, eine nach Saint-Mathurin, eine
andere nach Saint-Maur, eine andere nach Saint-Louis von Marseille und eine
andere nach Notre-Dame von Valvert, so ordne ich an, daß diese Wallfahrten
durch meine Söhne erfüllt werden; ein jeder mache die seine, wenn nicht einer
alle fünf erfüllen kann. Und da ich gelegentlich der Krankheit meiner Frau
Martha versprochen habe, zum Heiligen Grab zu pilgern, sobald der Friede
hergestellt oder ein langdauernder Waffenstillstand eingetreten ist, so will
ich, daß einer meiner Söhne die genannte Wallfahrt unternehme, wenn ich selbst
dazu nicht imstande sein sollte.«
    Bernard von Albret hat sieben Söhne und
fünf Töchter, als er dieses Testament erläßt. Siebzehn Jahre später, 1358 also,
macht er ein neues Testament;

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