Auf dem Weg nach Santiago
einspart. 41
So wird das Wallfahren für einige zu
einem regelrechten Beruf. Für Meister Jean d’Acre zum Beispiel, der in der
Pariser Steuerrolle von 1313 unter der Berufsbezeichnung »Vergebungserbitter« (quéreur
depardons) aufgeführt wird. 42 Das gilt in unserer Zeit auch für
Madeleine Fouchet; sie wallfahrtete jahrelang für andere, mit
Empfehlungsschreiben der kirchlichen Stellen ausgestattet; die Berufung dazu
kam ihr im zweiundzwanzigsten Lebensjahr. Es erwies sich als gefährliche
Berufung: Madeleine Fouchet fand 1968 den Tod, als sie bei Lyon die
Nationalstraße 6 überquerte.
Eine andere Form ist die Bußwallfahrt,
als kanonische oder zivilrechtliche Strafe verhängt. Hier wird das Pilgern als
höchster Ausdruck der Verbannung und der Sühne Strafe und Buße in einem. Der
von einem Bischof begangene Mord zum Beispiel, der Vatermord, die
Ausschweifung, der Diebstahl von Kirchengütern werden mit Pflichtwallfahrten
bestraft, deren Länge und Schwierigkeit der Schwere des Vergehens entsprechen.
Das Konzil von Clermont (1150) sieht
für Brandstifter eine Wallfahrt nach Jerusalem oder Compostela vor, wo sie ein
Jahr verbleiben müssen. 43 Diese Strafe einer Wallfahrt nach
Compostela wird für Brandstifter aufs neue in Kraft gesetzt durch Friedrich Barbarossa
im Jahre 1186. Denn das Verbrechen ist schwer: Die Häuser sind in den meisten
Fällen aus Holz gebaut und mit Stroh gedeckt; sie stehen in dem zu engen Raum
der befestigten Städte dicht aneinandergedrängt — es genügt, daß eines brennt,
und schon brennen alle mitsamt Brücken und Kirchen.
Nach der Ermordung des Abts von Neuburg
(Unterelsaß) am 19. November 1334 durch Leute aus den Nachbarorten Uhlweiler
und Altdorf werden zwei der Schuldigen dazu verurteilt, zuerst nach Rom und im
folgenden Jahr nach Compostela zu pilgern. 44
Am 10. Februar 1328 verurteilen die
Räte der schon erwähnten Gräfin Mahaut von Artois — eine offensichtlich ganz
große Pilgerlieferantin — den Mittäter eines Anschlags gegen den Vogt von Aire
zu einer Wallfahrt nach Santiago. Ein anderer Mitschuldiger begibt sich am 28.
Juli 1329 ebenfalls auf den Pilgerweg. 45
Ein Vertrag zwischen Conrad Probus, dem
Bischof von Toul, und den Bürgern der Stadt verurteilt im Mai 1285 einige an
den Tätlichkeiten gegen die Kathedrale Mitverantwortliche zur Wallfahrt nach
Compostela und zum Verbleib dortselbst für ein Jahr. 46 Im nördlichen
Frankreich und in den Niederlanden wird die Wallfahrt von den Behörden
ebenfalls oft als Strafe verhängt. Der Große Rat von Mecheln wählt dazu je nach
der Schwere des Verbrechens ein mehr oder weniger entferntes Heiligtum. Am 27.
März 1391 verpflichtet der private Rat des Grafen von Flandern jene, die den
Burgfrieden gebrochen haben, der Reihe nach zur Pilgerfahrt. Auch die Stadt
Ypern benutzt »diese heilsame Umwandlung des Banns«, um gegen Gotteslästerung,
Hexerei, religiöse Abständigkeit und Prostitution zu kämpfen. Sogar als Strafe
für die Übertretung von Polizeivorschriften konnte die Wallfahrt nach Santiago
dienen, etwa wenn jemand in den Stadtteichen badete oder am Fuß des
Glockenturms Blumen verkaufte — Blumen zu schenken galt als Vorwand für
unsittliche Annäherung. 47
Manche Pilger werden dazu verurteilt,
kettenbeschwert zu wandern; das soll ihrer Buße Nachdruck verleihen. Im Falle
von Tötung wird die Kette oft wenigstens zum Teil mit der Mordwaffe
zusammengeschmiedet. Ketten, Ringe, Kugeln, Halseisen — sie sind zuweilen so
lange zu tragen, bis das Metall durch Schweiß oder Rost zerfressen bricht und
den Büßer freigibt. Man hält dann dafür, daß die Schuld gesühnt ist.
Guillaume de Nogaret, der rechte Arm
Philipps des Schönen und geschworener Feind der Templer, wird 1303
exkommuniziert, weil er Papst Bonifaz VIII. in Anagni übel behandelt hat.
Dessen Nachfolger Klemens V. ist damit einverstanden, die Exkommunikation aufzuheben,
und zwar unter folgenden Bedingungen: Guillaume muß zuerst am nächsten Kreuzzug
teilnehmen, anschließend hat er nach Notre-Dame von Valvert, Notre-Dame von
Rocamadour, Notre-Dame von Le Puy, Notre-Dame von Boulogne-sur-Mer, Notre-Dame
von Chartres, Saint-Gilles-du-Gard, Saint-Pierre von Montmajour und endlich
nach Santiago de Compostela zu pilgern.
Solche Strafen tilgen die Schuld des
Verurteilten, weil Verbrechen und Sünde eine Einheit bilden. Die Wallfahrt
besitzt heiligende Kraft nicht nur durch die Fürbitte des heiligen
Schutzpatrons, sondern fast ebensosehr wegen
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