Auf dem Weg nach Santiago
Bis zu Ihrer Rückkehr sind Sie nun Pilger.
»Betet für uns !« flehen jene, die zurückbleiben.
»Betet für uns in Compostela !«
Sie verlassen den Kirchplatz, gehen an
der Kirchhofmauer entlang, schließen sich der Gruppe der Hoffenden an — soeben
ist auch der kleine Bonnecaze herbeigelaufen; er hat mitten in der Nacht
heimlich sein Elternhaus verlassen, am Rand des Gartens seinen Pilgerbeutel
geschnappt und steht nun da, ohne Geld oder fast ohne Geld, ohne Segen, ohne
Bescheinigung: »Ich übergab mich gänzlich der Vorsehung.« 43
Sie erkennen Aymeri Picaud, Jean de
Tournai, Domenico Laffi, Guillaume Manier und seine drei Gefährten; im letzten
Augenblick hat sich auch Antoine Baudry La Couture entschlossen mitzugehen.
Schon jubelt einer vorn den Sammelruf,
den »Schlachtruf« aller Pilger:
E ultreia! E sus eïa! Deus aïa nos!
Los! Auf geht’s! Gott steh uns bei!
drittes kapitel
BRÜCKEN UND WEGE
Höhenwege und Talwege — Domingo der Wegarbeiter — Unsere Liebe Frau vom Wegweiser — Große
Wasser — Die fratres pontifices — Geht ihr voraus! — Pater Martin überquert den Lot — Verdammte Fährleute! — Die enge Pforte
— Jean Taccouen
verfehlt Spanien — Ego sum via
Z wischen Morgen und Abend zieht sich der
Weg dahin. Mal ist er erdig, mal felsig, mal mit Steinplatten befestigt, mal
bedeckt mit verdorrten Blättern, mit Schlamm, Sand oder Schotter. Er klettert
baumlose Hügel hinauf, schleicht träge auf der Sohle fruchtbarer Ebenen dahin
oder schneidet ganze Landschaften in zwei Stücke. Der Weg
ist das übliche Tagewerk des Pilgers. Voraus liegt das Unbekannte, drohend und
verheißend zugleich. Nach hinten — wie oft haben Sie sich nicht umgedreht am
ersten Tag Ihrer Wanderung! Sicher deswegen, weil Sie Ihr Vorankommen
abschätzen wollten, aber auch, weil Sie dieser Weg, den Sie unter die Füße
nahmen, noch wie eine Nabelschnur an Ihre Angehörigen, an Ihre Gewohnheiten, an
Ihre Richtpunkte bindet — an den, der Sie waren. Und so Gott will, werden Sie
auf diesem Weg zu sich zurückkehren.
Manche Wege sind sozusagen natürliche
Wege, durch die Topographie festgelegt; in den meisten Fällen ein Höhenkamm,
aber auch ein Talgrund, ein Durchbruch, eine Geländefalte. Die Rue
Saint-Jacques in Paris zum Beispiel; man sagt, die Mammuts hätten sie auf ihrem
Weg zur Tränke an der Seine ausgetrampelt; Cäsar zog hier seine große
Nord-Süd-Achse durch; tausend Jahre später bleibt diese Straße immer noch der
königliche Weg nach Orléans.
Für gewöhnlich kümmerten sich die Römer
beim Bau ihrer Straßen nicht um die Launen der Landschaften, die zu durchqueren
waren. Sie bauten Erobererstraßen, geradlinig, durchschlagend wie ein
Schwerthieb, immer direkt, ohne schlaffes Schlängeln, ohne Umschweife. Sie
verstanden es, die zu steilen Hänge zu vermeiden und beim Fehlen einer Brücke
die beste Furt aufzufinden. Als strategische Mittel der pax romana waren
die Römerstraßen dazu bestimmt, Soldaten und Beamten bei der Ausbreitung des
Reiches zu dienen.
Straßen, die keiner ursprünglichen
Trasse und keinem ehemaligen Wasserlauf folgten, wurden auf tiefem Unterbau
angelegt und sorgfältig mit Steinen, ja sogar mit Platten belegt; sie haben den
Schlendrian der Niedergangszeit nach der Herrschaft Roms im allgemeinen gut
überstanden. Das auf Lyon, die Hauptstadt Galliens, zugerichtete römische
Straßennetz bewältigt aber schlecht oder höchstens zufälligerweise die große
Völkerwanderung der Santiagopilger nach dem Südwesten. Sie marschieren auf den
Römerstraßen von Tours nach Poitiers, von Limoges nach Périgueux, am linken
Rhoneufer entlang, von Arles nach Béziers über Montpellier oder bleiben ihnen
doch sehr nahe. Die Italiener, die die provenzalische Küste entlangwandern,
folgen der Via Aurelia, die Fréjus, Le Thoronet und Saint-Maximin durchquert;
weiter im Norden steht ihnen die Via Domitiana zur Verfügung, die über Tarascon
und Nimes verläuft; die Via Traiana von Bordeaux nach Astorga wird für viele
Compostela-Pilger zum Weg über die Pyrenäen.
Freilich, die Bedürfnisse eines Pilgers
sind nicht die der römischen Zivilisatoren. Der Wanderer auf Gottes Wegen
pilgert von einer Reliquie zu einem Heiligtum nicht nur in gerader Linie, dies
um so weniger, als er seine Zeit nicht zählt. Der unstete, impulsive Mensch des
Mittelalters paßt sich allen Um- und Irrwegen an.
Die Pilgerpfade ziehen sich dahin, als
wären sie sich selbst überlassen.
Weitere Kostenlose Bücher