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Auf dem Weg nach Santiago

Auf dem Weg nach Santiago

Titel: Auf dem Weg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Noel Pierre / Gurgand Barret
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aufzuhalten oder
Umwege zu machen; er ist sehr arm, schlecht ausgerüstet, immer kränklich und
denkt nur an sein Ziel. Insofern unterscheidet er sich sehr deutlich von jenen
Pilgern des Mittelalters, die stets darauf aus sind, eine neue Reliquie
aufzuspüren, ein Wirtshaus, eine Legende, eine Neuigkeit, denn ihre Bildung
wächst nur aus dem, was sie sehen und hören; man macht einen Umweg und kehrt
wieder zur Hauptpilgerstraße zurück.
     
    In allen Berichten unserer
Santiagowallfahrer kommen immer wieder dieselben Namen vor. Zunächst deshalb,
weil der Reiz eines Weges jahrhundertelang dessen Verlauf bestimmt: Von Karl
dem Großen bis zur Französischen Revolution hat eigentlich nur die Erfindung
des Schubkarrens die Straßenbauarbeiten beeinflußt. Man muß bis zur Zeit der
topographischen Aufnahmen und der Bulldozer warten, damit beim Ausbau einer
Straßenstrecke die Sorge um eine gute technische Leistung über alles
»Sentimentale« die Oberhand gewinnt.
    Von Technik ist zur Zeit, da sich
allmählich das Netz der Pilgerstraßen in den Boden gräbt, noch keine Rede, und
keiner der Reisenden ist in der Lage, eine das ganze Land umfassende Karte
aufzustellen. Sieht man sich jedoch heute die Organisation und die Logik dieses
Straßennetzes genauer an, so begreift man, daß seine Quelle ebenso im politischen
Willen der religiösen und weltlichen Mächte wie in der seit unvordenklichen
Zeiten üblichen Benutzung zu suchen ist.
    Tours, Vézelay, Le Puy und Arles —
diese vier Knotenpunkte zum Aufbruch nach Compostela sind gleichmäßig auf den
französischen Boden verteilt; es sind dies bedeutende Heiligtümer, selber
Mittelpunkte großer Wallfahrten, eine Art Hauptstädte der Frömmigkeit, die
gewaltige Massen anziehen und damit auch die wirtschaftliche und kulturelle
Aktivität ihres Gebietes fördern. Die im Jahre 1003 begonnene Kathedrale
Saint-Martin in Tours ist die erste Kirche neuer, den Bedürfnissen einer
Wallfahrtskirche entsprechender Bauart: weiträumig, mit Chorumgang, damit die
Wallfahrer um die heiligen Reliquien herumziehen können.
    Der Soldat Martin, der im 4. Jahrhundert
seinen Mantel mit einem armen, frierenden Menschen teilte und später Bischof
von Tours wurde, war lange Zeit Gegenstand unermeßlicher Verehrung. Und dieser
Weg, der von Tours nach Spanien führt, ist auch und vielleicht vorerst der Weg,
auf dem die spanischen Pilger nach Tours zogen. »Die Kranken kommen hierher«,
versichert Aymeri Picaud, »und finden Heilung, die Besessenen werden befreit,
die Blinden sehen wieder, die Hinkenden richten sich auf, und alle Arten von
Krankheit werden geheilt; und jeder, der Gnade erbittet, erlangt eine
vollkommene Stärkung .« 11
    In Vézelay werden im Namen der heiligen
Maria Magdalena, »die den sehr geliebt hat, der alle Menschen liebt [...], den
Sündern durch die Liebe der Heiligen von Gott die Sünden vergeben [...], und
unzählige Wohltaten werden vielen Gläubigen zuteil.« 12 Desgleichen
in Le Puy, desgleichen in Saint-Gilles-du-Gard.
    Die Menschen erwachen aus den
apokalyptischen Schrecken der Jahrtausendwende. Sie heben erstaunt den Kopf und
wagen sich wieder in die Welt. Das 11. und das 12. Jahrhundert sind
Jahrhunderte der Wiedergeburt. »Fast alle Welt«, so schreibt 1047 der Mönch
Raoul Glaber in einem der berühmtesten mittelalterlichen Texte, »erneuerte ihre
Basiliken, ihre Kirchen. Und doch waren die meisten in gutem Zustand und
bedurften keiner Renovierung. Aber jede Gegend der Christenheit wetteiferte mit
der anderen, um die schönste Kirche zu besitzen. Es war, als ob die Welt selbst
sich streckte und schüttelte, um das Veraltete abzuwerfen und sich mit einem
Kranz von prachtvollen Kirchen zu schmücken .« 13
    Das christliche Abendland geht unter
dem Druck einer neuen Lebenskraft aus allen Fugen. Es ist eine Vitalität, die
zum Aufbruch drängt. Ein Weg, ein Heiligtum — die ganze Epoche ist in diesen
beiden Worten eingefangen, in der Wallfahrt und ihrem höchsten Ausdruck, dem
Kreuzzug.
    Von der Kirche zum Marktflecken, vom
Dorf zur Reliquie, von einer neuen Stadt zum Dombauplatz graben sich nach und
nach die Wege in den Boden, über Stock und Stein, schweifen immer wieder von
den großen Straßen ab. Aus lauter Sonderverbindungen, die auf verborgenen
Notwendigkeiten beruhen, die den Launen des Windes ebenso wie gelegentlichen
Umständen gehorchen, entsteht so ein weitverzweigtes Wegenetz.
    Man wundert sich da zum Beispiel, daß
so viele Italiener, die von Pisa oder

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