Auf dem Weg nach Santiago
Pointe Saint-Jacques zum
Einschiffen nach Compostela bestimmt gewesen zu sein. Englische Wallfahrer
gehen bei Soulac an Land und setzen ihren Weg zu Fuß fort.
Sie haben es also vorgezogen, zu Fuß zu
gehen, denn Sie sind der Auffassung, eine Wallfahrt müsse eine Prüfung sein,
und man handle dem Geist des Pilgerns zuwider und betrüge sich selbst um den
Sinn der Vergebung, wenn nicht jeder Schritt etwas kostet. Nicht als zögen die
zufälligen Begebnisse und die Gefahren Sie besonders an. Aber Sie wissen sehr
wohl, was Christus gesagt hat: »Wenn jemand zu mir kommt und nicht Vater und
Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern, ja sogar sein Leben gering
achtet, dann kann er nicht mein Jünger sein« (Lk 14,26). Leiden, demütig
leiden, an seinen Fersen, an seinen vor Müdigkeit und Kälte verkrampften
Muskeln, das heißt arm sein. Das Leiden ist eine Entblößung.
»Ich bin der Weg und die Wahrheit und
das Leben« (Joh 14,6), auch das hat Christus gesagt. Dieser Weg nimmt einen
ganz in Anspruch. Er krallt sich an baumlose Hänge, schlängelt sich zwischen
Feldern, schneidet die Landschaft in Stücke. Doch ist nicht dies das
Eigentliche. Wichtig ist, daß er zum heiligen Jakobus führt und Sie bei diesem
Heiligen etwas mehr über sich selbst erfahren läßt. Es ist, als ob sich der
alte Mensch, der Sie waren, im selben Maße wie Ihre Füße in den Fahrspuren
abnutzte.
Am Ende des Weges gereinigt,
losgekauft, ein anderer geworden — aber wer werden Sie sein?
Zwischen Morgen und Abend, über Erde
oder Fels, Pflastersteine, verdorrte Blätter, Schlamm, Sand oder Schotter läuft
der Weg. Ihn gilt es zuerst zu gehen.
viertes kapitel
DIE REISE DER VIER WEGE
Folgen Sie dem Führer! — Von Brügge bis Nischnij Nowgorod —
Madeleine — Der
Rosmarin von Vitoria — Ein Weg, ein Heiligtum — Der camino francés — Bernardo
gegen Roland — Die concheros begehren auf - Alle zum Ausgraben — Im Dschungel der Währungen
» V ier
Wege«, so erklärt Aymeri Picaud in seinem Reiseführer aus dem 12. Jahrhundert,
»führen nach Santiago; sie vereinigen sich auf spanischem Boden in Puente la
Reina zu einem einzigen. Der erste verläuft über Saint-Gilles im Rhônedelta,
dann über Montpellier, Toulouse und den Somportpaß; der zweite über Notre-Dame
in Le Puy, Sainte-Foy in Conques und Saint-Pierre in Moissac; der dritte über
Sainte-Marie-Madeleine in Vézelay, Saint-Léonard im Limousin und die Stadt
Périgueux; der vierte schließlich geht über Saint-Martin
in Tours, Saint-Hilaire in Poitiers, Saint-Jean in Angély, Saint-Eutrope in
Saintes und die Stadt Bordeaux. Die über Sainte-Foy, Saint-Léonard und
Saint-Martin führenden Straßen vereinigen sich in Ostabat, überqueren den
Cizepaß und treffen in Puente la Reina mit der über den Somport laufenden
Strecke zusammen; von hier aus führt ein einziger Weg nach Santiago.« 1
Nach diesem ersten Überblick beschreibt
Aymeri Picaud die Reisewege in ihren Einzelheiten — eine ganze Liste von
Ortsnamen, zuweilen unterbrochen durch einige genauere Hinweise wie: Hier
finden Sie Thermen mit »stets warmem Wasser«, dort liegt eine Stadt (Carrión),
»geschäftig und blühend, reich an Brot, Wein, Fleisch und allen möglichen Dingen«.
Auch Legenden führt er gelegentlich an (in Sahagún »ist eine Wiese, wo nach der
Überlieferung die blinkenen Siegerlanzen, die hier zur Ehre Gottes in den Boden
gesteckt wurden, manchmal zu grünen beginnen«), aber auch Bräuche (bei
Triacastela »lädt man den Pilgern einen Stein auf, den sie bis Castañeda mit
sich tragen; dort macht man daraus Kalk, der beim Bau der apostolischen
Basilika verwendet wird«).
Carrión, Sahagún, Triacastela... ein
Schritt hatte genügt, um Sie Ihrer Heimat zu entreißen. Sehr schnell, schneller
als erwartet, haben Sie die wohlvertrauten Grenzen Ihres Landes überschritten.
Unbekanntes öffnet sich Ihnen nun an jeder Wegbiegung. An jeder Kreuzungweitet
sich Ihnen die Welt, bietet Ihnen Möglichkeiten, nennt Ihnen klingende oder beunruhigende
Namen — was würden Sie nicht alles dafür geben, könnten Sie nach mancherlei
Ermüdung, vor manchen menschenleeren Gegenden erfahren, wo Sie sich befinden...
Darum haben die Pilger nach ihrer
Rückkehr sorgfältig ihren eigenen Weg aufgeschrieben; sie wollten damit kein
literarisches Kunstwerk schaffen, sondern einen praktischen Bericht verfassen,
der beim Fehlen jeglicher Karte dazu dienen konnte, auf dem rechten Weg
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