Auf dem Weg nach Santiago
Florenz herkommen, den schwierigen
Alpenpaß am Großen Sankt Bernhard nehmen, anstatt auf dem kürzesten Weg längs der Küste über Genua nach Nizza zu reisen und von dort dann
durch die Provence. Das hat seinen Grund darin, daß durch das Eindringen der
Barbaren am Ende des römischen Kaiserreiches die alte Via Aurelia, die doch die
Hauptverkehrsstraße zwischen Rom und Gallien gewesen war, unbenutzbar geworden
ist; ein anderer Grund sind die überraschenden Landungen und Überfälle
sarazenischer Piraten, die die ganze Riviera unsicher machen. So zeichnet sich
schon die voie francigéne (der fränkische Weg) ab, über Turin und den
Mont-Cenis oder den Mont-Genèvre, ein längerer, ein gewiß schwierigerer Weg,
doch bedeutend sicherer. Französische Pilger nehmen diesen Weg in umgekehrter
Richtung, um nach Sankt Peter in Rom zu gelangen.
Was nun den spanischen Weg angeht — er
gleicht dem Stiel eines Blattes, das von vier Hauptnerven und einem
unentwirrbaren Gewebe von Verzweigungen durchlaufen ist; sein Verlauf selbst
erweist sich vor allem als das Ergebnis politischen Willens.
Im beginnenden 11. Jahrhundert zögern
die Galicien-Pilger, wie Godescalc im Jahre 951, den Weg durch das Landesinnere
einzuschlagen, denn er ist ständig der Bedrohung durch die Mauren ausgesetzt.
Sie ziehen den Weg an der kantabrischen Küste vor. Das ist allerdings eine
schwierige und gefahrvolle Strecke. Die Berge fallen oft senkrecht zum Meer ab,
Seeräuber machen die Küsten unsicher, und die noch heidnischen Basken sind auch
nicht gerade die gastfreundlichsten Leute.
Im Jahre 997 plündern die Mannen des
gefürchteten Almansor aus Córdoba die Stadt Compostela und machen die Kirche
dem Erdboden gleich. Fünf Jahre später wird der Emir in der Schlacht von
Calatañazor besiegt — und getötet. Von da an beginnt die langwierige
Reconquista, gewollt von den Päpsten, den Königen, den Äbten von Cluny, die
eine Expedition nach der anderen auf die Beine bringen: Herzog Wilhelm von
Aquitanien, Hugo I. von Burgund, Aymeri I. von Narbonne, Raimund von
Saint-Gilles — einer nach dem anderen überqueren sie die Pyrenäen. König Sancho
der Große von Navarra erobert die Rioja zurück und lädt die Franken ein, sich
hier niederzulassen. Gaston IV. stürmt am 15. Mai 1118 mit seinen Leuten aus
dem Béarn nach Ayerbe und Almudévar hinunter, um Saragossa in seine Gewalt zu
bringen. Alle Mauren werden mit dem Schwert erschlagen, »damit die anderen
Angst bekommen«. 14 Saragossa fällt am 18. Dezember, und im
darauffolgenden Jahr wird das Hospiz Santa Cristina — nach Aymeri Picaud »eine
der drei guten Raststätten dieser Welt« — wieder instand gesetzt. Der große Weg
nach Compostela über Burgos und León ist wieder frei; er wird allmählich
ausgebessert und mit Herbergen, Gasthäusern und Kirchen versehen.
Die Achse Pyrenäen-Compostela an den
Grenzen der Christenheit ist fortan eine gesicherte strategische Position. Wie
nie zuvor sind Religion und Politik eine Einheit geworden, und der heilige
Jakobus ist nicht mehr nur der bevorzugte Fürsprecher der Pilger. Bei der
Schlacht von Clavijo im Jahre 844 war er in Gestalt eines herrlichen Ritters
erschienen, der auf seiten der Christen gegen die Ungläubigen losstürmte. Ein
Apostel in Rüstung — so wird der heilige Jakobus mit dem Beinamen Matamoros
(Maurentöter) unversehens zum kriegerischen Patron Spaniens, das den von
Cervantes erwähnten Schlachtruf wählt: »Santiago y cierre España !«
In Navarra, in Kastilien, in León und
in Galicien liegt der Weg von nun an im wesentlichen fest. 15 Zwei
Jahrhunderte, das 12. und das 13., erleben einen bisher unbekannten Zulauf an
Wallfahrern aller Nationalitäten; sie kommen durch Frankreich zu den Pyrenäen
und bevölkern mit ihren erregten Scharen den camino francés.
Es ist die Zeit, da der aus Loudun
gebürtige Mönch Aleaume im Kloster La Chaise-Dieu durch Königin Konstanze von
Burgund nach Kastilien gerufen wird, wo er am Tor von Burgos ein Pilgerhospiz
errichtet; es ist die Zeit, da Domingo in dem später nach ihm benannten Ort
Santo Domingo de la Calzada eine Brücke über den Río Oja schlägt und Sancho von
Navarra sich bemüht, den Übergang über den Somport sowie die Stadt Jaca
auszubauen, in einer kurz zuvor wiedereroberten und noch darniederliegenden
Gegend. Im damaligen Spanien ist der Boden weniger kostbar als die Menschen,
die ihn aufwerten. Um Siedler im Land zu halten, gewährleisten Sonderrechte (fueros) den
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