Auf dem Weg nach Santiago
umarmen sie den Heiligen von rückwärts,
hängen ihm ihr Cape um und setzen ihm ihren Hut auf .«
Manier beschreibt noch einen seltsamen
Apparat, »wo in der Mitte [...] eine Kugel vom Rosenkranz des heiligen Jakobus
eingefädelt ist; die Pilger berühren sie und bringen sie aus frommer Verehrung
zum Drehen«. Schließlich zeigt man ihm am Hauptportal »einen Pfeiler aus
grauweißem Marmor und an diesem Pfeiler die Spuren von den fünf Fingern der
Hand unseres Herrn, als er die Kirche andersherum drehte, weil früher der
Hochaltar nach Sonnenaufgang lag. Diese fünf Fingerspuren sind in den Marmor
wie in Teig eingedrückt .«
Manier und seine Gefährten nehmen sich
nach ihrer Ankunft in Compostela erst am anderen Morgen die Zeit, die
Kathedrale und die Stadt zu besichtigen. Der Tag ihrer Ankunft selbst war
reichlich ausgefüllt.
An diesem Morgen — es war der 1.
November 1726 — sind sie früh aufgestanden, denn schon um neun Uhr treten sie
nach zweimonatigem Pilgern durch das Fränkische Tor. Sie betreten die Kathedrale
und sagen Gott Dank, »diese Reise gesund überstanden zu haben«. Sie hören die
Messe, das Hochamt von Allerheiligen, mit »Orchester, nämlich zwei Orgeln, drei
Geigen, einem Spinett, einer Trompete, mehreren Baß- und anderen Instrumenten,
die eine reizende Musik machten«.
Nach der Messe verlassen sie die
Basilika und verbringen den Rest des Tages auf eine fast unglaubliche Weise:
Um elf Uhr sind sie im F
ranziskanerkloster »von Chocolante«, wo sie gutes Brot, Suppe und Fleisch
bekommen.
Um zwölf Uhr trifft man sie im
Benediktinerkloster Sankt Martin; hier essen sie Suppe, Kabeljau, Fleisch und
ein ausgezeichnetes Brot, »ein Brot, wie man es hierzulande selten findet«.
Um ein Uhr verteilen die Karmelitinnen
Brot und Fleisch: Unsere Pilger sind dabei.
Um zwei Uhr kommen sie gerade noch
recht, als die Jesuiten Brot austeilen.
Um vier Uhr begeben sie sich zu den
Dominikanern außerhalb der Stadtmauern, denn hier gibt es »Suppe, die als
Abendessen dient«.
»Hernach«, so schließt Manier, »gingen
wir ins Hospital zum Schlafen in guten Betten .« Dieser
»Freßtag«, dieser »feierliche« Abschluß einer mühsamen Wanderung, diese
unersättliche Orgie in Brot und Suppe ist sicher auch die Folge davon, daß die
Pikarden trotz ihres Organisationstalents nicht alle Tage ihren Hunger stillen
konnten.
Am nächsten Morgen — es ist Samstag,
Allerseelen — beichtet Manier im Hospital bei einem französischen Priester, der
ihm den folgenden, lateinisch abgefaßten und unterschriebenen Beichtzettel
überreicht: »Ich habe die Beichte des Guillaume Manier, Franzose aus der
Diözese Noyon, gehört. Compostela, am zweiten Tag des Monats November, im Jahre
des Herrn 1726.«
Mit diesem Beichtzeugnis geht Manier in
den Dom und kommuniziert in der Kapelle der Franzosen, Kapelle des heiligen
Ludwig genannt. Jetzt erhält er die »schriftliche Bestätigung seiner Wallfahrt
und der Kommunion«:
»Ich,
Don Lucas Antonio de la Torre, Kanonikus an dieser heiligen apostolischen
Metropolitankirche von Compostela, Verwalter, durch den erlauchten Domdekan und
das Domkapitel mit der Sorge für die durch Seine Allerchristlichste Majestät,
den König von Frankreich, in dieser Kirche erbaute Kapelle betraut, um hier
allen Gläubigen und Pilgern der Welt, die aus Frömmigkeit oder zur Erfüllung
eines Gelübdes hierher zum Grab des Apostels Jakobus, des einzigen und
einzigartigen Patrons Spaniens, kommen, die Sakramente zu spenden, wir lassen
alle und jeden, der diese Bescheinigung liest, wissen: Guillaume Manier,
Franzose, hat auf dem Weg nach Rom dieses ehrwürdige Heiligtum besucht,
gebeichtet und die Lossprechung empfangen, er hat unter den eucharistischen
Gestalten den Leib unseres Herrn empfangen. Zur Beglaubigung habe ich ihm
dieses mit meinem Namen unterschriebene und mit dem Siegel dieser heiligen
Kirche gezeichnete Schriftstück überreicht. Gegeben zu Compostela, am zweiten
November, im Jahre des Herrn 1726. Ich, Damián Asenicado, Kanonikus.«
Manier und seine Gefährten zahlen jeder
zwei Sols für diese Bescheinigung und eilen damit zur erzbischöflichen
Residenz, wo der Almosenverwalter einem jeden eine Coartes, das sind zwei
Liards, austeilt. 24
Den Bedürftigen wird diese Compostela genannte Bescheinigung kostenlos ausgestellt. Sie und der Beichtzettel dienen
den Pilgern als Ausweis und ermöglichen ihnen auch im
Bedarfsfälle freies Geleit auf dem Heimweg. Das »Große
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