Auf den Flügeln der Sehnsucht
den Hals gefallen. Josef jedoch hatte ihr zugeflüstert, sie solle vorsichtig sein mit allem Neuen, das sich ihr noch bieten könne und lieber an dem festhalten, was sie bereits hatte und kannte.
Den ganzen Morgen, während sie ihre Hütte aufräumte, für Arco, ihren treuen Schäferhund, das Futter bereitete und auch für sich selbst das Frühstück auf den Tisch stellte, musste sie über diesen seltsamen Traum nachdenken. Doch was er bedeuten sollte, das hatte sie bis jetzt nicht erkannt.
"Gehen wir ein Stück spazieren, Arco?" fragte sie den Hund und winkte ihm mit der Leine. "Nur eine Weile, damit wir nicht immer nur hier hocken." Sie kettete die Leine ans Halsband und ging nach draußen.
Laut bellend sprang der Hund an ihr hoch, was bedeuten sollte, dass er spielen wollte. Also machte Lena die Leine wieder los und griff nach dem ersten Stock, den sie entdeckte, und warf ihn ihm.
Arco kannte das schon. Mit sich vor Begeisterung schier überschlagender Stimme lief der Hund dem Holz nach. Lenas Blick folgte ihm und blieb überrascht an einem Auto hängen, das nicht weit von der Straße entfernt auf dem schmalen Weg parkte, der zu ihrer Hütte führte.
"Arco, hier her!" rief sie dem Tier zu, das ihrem Befehl sofort folgte. "Sollen wir uns das Auto einmal aus der Nähe ansehen?" fragte sie, und der Hund antwortete mit einem Schwanzwedeln. Also machten sie sich auf den Weg. Krampfhaft hielt Lena den Stock fest, falls sie ihn noch einmal brauchen würde.
Kaum fünf Schritte war en sie noch von dem fremden Auto entfernt, das ein Kennzeichen von Pfronten trug. War das ein Tourist? Sie blieb stehen und versuchte zu ergründen, wer am Steuer saß. War es ein Mann oder eine Frau? Sie glaubte, einen Mann zu erkennen.
Hastig warf sie den Stock ein Stückchen von sich, und Arco stürmte erneut los. Er bellte vor Begeisterung und störte sich gar nicht daran, dass er ganz dicht an das fremde Auto heran musste, um sein Spielzeug zu holen.
Lena folgte ihm mit klopfendem Herzen , blieb immer wieder stehen und überlegte, ob es überhaupt klug war, was sie tat. Irgendetwas stimmte nicht mit diesem Wagen. Lag womöglich ein Toter darin? Man las ja öfter in den Zeitungen, dass es so etwas geben sollte. Doch hier?
Am liebsten wäre sie in diesem Moment davongelaufen, doch das wagte sie auch nicht. Vielleicht brauchte jemand ihre Hilfe, und nur wegen ihrer unsinnigen Angst würden Helfer dann zu spät kommen. Immerhin war es ja auch möglich, dass der Fahrer einen Herzinfarkt erlitten oder gar einen Selbstmordversuch unternommen hatte. Man las ja soviel in den Zeitungen, die Frank ihr jeden Abend heraufbrachte.
Jetzt hatte sie das Auto erreicht. Vorsichtig blickte sie durch das Fenster an der Beifahrerseite ins Wageninnere. Dort saß er, ein Mann, dessen Gesicht sie noch nie zuvor gesehen hatte, und das ihr doch schon von der Seite so vertraut war, als würde sie es bereits seit einer kleinen Ewigkeit kennen.
Zunächst saß der Mann noch bewegungslos da, anscheinend hatte er ihre Anwesenheit nicht bemerkt. Dann jedoch drehte er sich heftig um und starrte in ihre Richtung. Sein Gesicht war sehr sympathisch, offen, wirkte aufgeschlossen, doch jetzt war der Blick seiner aufgerissenen Augen nicht nur verärgert sondern regelrecht wütend.
Lena zuckte zusammen. Sie wich erschrocken zurück. Für einen Moment lang fühlte sie sich wie bei einer verbotenen Tat ertappt und konnte sich erst gar nicht rühren. Dann jedoch drehte sie sich hastig um, rief nach Arco und lief den Weg zu ihrem Häuschen zurück so schnell sie nur konnte.
Nachdenklich stand sie an ihrem kleinen Fenster und spähte nach draußen. Der fremde Wagen stand noch eine ganze Zeitlang da, schließlich startete er und fuhr langsam davon. Bald hatte die nächste Straßenkurve ihn verschluckt.
Lenas Herz klopfte zum Zerspringen. Was war nur mit ihr geschehen? Der Fremde hatte sie in diesem kurzen Augenblick so beeindruckt, dass sie noch immer keinen klaren Gedanken fassen konnte. Allerdings musste sie jetzt einsehen, dass ihre Befürchtungen, er könnte sich etwas angetan haben, unsinnig gewesen waren. Darüber war sie sehr erleichtert.
Langsam löste sich ihre Erstarrung. Sie atmete tief durch, bis sich die Klammer löste, die sich um ihre Brust gelegt hatte. Jetzt konnte sie sich an ihr Tagwerk machen. Das Vieh musste versorgt werden und die Milch verarbeitet. Doch was Lena auch tat, das
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