Auf den Flügeln der Sehnsucht
Leben, nur die gab ihr die gefühlte Sicherheit, die sie unbedingt brauchte. Meist schlenderte sie durchs Dorf, besuchte den kleinen Laden, um einige wichtige oder unwichtige Dinge einzukaufen und schaute sich ansonsten ganz genau die Leute hier an. Das kleine Dorf gefiel ihr mit jedem Tag besser.
Langsam merkte Marion, wie ihr Kummer jeden Tag ein Stückchen weiter wegrutschte. Das veränderte Leben, die fremden Leute forderten einen ganzen Teil ihrer Gedanken. Außerdem liebte sie es, lange Spaziergänge in die Natur zu unternehmen, das gab ihr die Kraft, den treulosen Gerd und alles, was mit ihm zusammenhing, auf den Platz zu stellen, der ihm auf Grund seines Verhaltens zukam, nämlich den im Dunkel der Vergangenheit.
Die junge Frau blieb stehen und lauschte dem Plätschern des kleinen Bächleins, neben dem sie schon eine ganze Weile herging. Die Vögel zwitscherten, und um sie herum war ein Frieden, der sie alles Belastende vergessen ließ.
Eine einsame Gestalt näherte sich ihr, sie musste schon eine ganze Zeitlang hinter ihr gelaufen sein, ohne dass sie etwas bemerkt hatte. Eigentlich wollte sie ja flüchten, doch eine innere Stimme, die sie nicht so recht deuten konnte, hielt sie davon ab.
"Guten Abend", grüßte der Mann, der sie jetzt eingeholt hatte. Er lächelte unpersönlich und wollte schon weitergehen.
"Guten Abend", grüßte Marion zurück und lächelte ebenfalls freundlich.
Der Mann blieb abrupt stehen und starrte sie an. "Sind Sie... vom Dorf?"
Marion nickte. "Teilweise. Und Sie?"
"Ich bin Urlauber oder so ähnlich." Sein Interesse erlosch. "Sicher werde ich nicht mehr lange bleiben." Nervös fuhr er sich mit der linken Hand durch die etwas wirren Haare. "Was verstehen Sie unter teilweise?"
"Mein Bruder lebt hier, ist Verwalter auf dem Baumannhof. Ich bin zu Besuch bei ihm."
"Baumannhof?" Jetzt war das Interesse wieder da. "Der Hof gehört Frau Baumann, Lena Baumann, nicht wahr?"
"Sie kennen sie? Da sind Sie mir ein ganzes Stück voraus. Ich hab sie noch nicht gesehen, weil sie auf der Alm mit dem Vieh ist." Marion wunderte sich schon gar nicht mehr über die seltsame Unterhaltung. Trotz allem fand sie den Fremden sympathisch, wenngleich er solch einen betrübten Eindruck machte, dass sie einen inneren Drang verspürte, ihn nach dem Grund dafür zu fragen.
"Sie ist ein sehr freundlicher Mensch", begann er leise. "Man kann wunderbar mit ihr reden, und ich könnte mir vorstellen..." Er dachte an den zarten Abschiedskuss, den sie sich gegeben hatten, obwohl sie sich kaum erst eine Stunde kannten.
Eine innige Zuneigung empfand er für sie, mehr nicht. Und das tat ihm leid, weil er glaubte, die Liebe, die er für eine Tote empfand, mit der Liebe zu einem lebenden Menschen zerstören zu können, damit er nicht mehr länger leiden musste.
"Ach, was solls. Gehen wir ein Stückchen zusammen?" Jetzt lächelte er richtig fröhlich. "An so einem herrlichen Abend sollte niemand allein sein."
Marions Herz machte einige rasche Schläge, als würde es sich über irgendetwas freuen, das sie selbst noch gar nicht erkannt hatte. "Sie haben recht, Herr..."
"Ich bin Werner." Er streckte ihr die Hand hin. "Werner Saalbach. Ich bin Lehrer in einem mittleren Dorf in der Nähe von Pfronten. Grundschullehrer", fügte er hastig hinzu.
Marion begann zu lachen. Sie ergriff seine Hand und ihre Augen leuchteten. Sie sah in diesem Moment so bezaubernd aus, das es ein Leichtes für sie gewesen wäre, den fremden Mann für sich zu gewinnen, wenn sie es nur gewusst hätte.
"Ich bin Marion Palleda, ebenfalls Lehrerin. Meine - unsere Eltern hatten einen Hof in der Nähe des Starnberger Sees, da, wo das Land noch flach ist. Nicht so gebirgig wie hier. Sie verkauften ihn, als sie ihn nicht mehr selbst bewirtschaften konnten. Frank, mein Bruder, studierte an der landwirtschaftlichen Hochschule, wollte jedoch kein Bauer werden sondern Lehrer, und ich... Nun wir sind eine Familie aus Lehrern geworden. Nur mein Bruder hat sich inzwischen zurück entwickelt und arbeitet jetzt als Verwalter."
Werner Saalbach lachte herzlich. "Sie haben eine Art zu erzählen, die einen gefangen nimmt", stellte er fest. "Wenn Sie so auch zu Ihren Schülern sprechen, kann ich mir gut vorstellen, dass Sie lauter Musterschüler heranziehen."
"Ich kann nicht klagen", gab sie zurück. Doch plötzlich erlosch ihr Lachen. Gerd war ihr wieder in
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