Auf den Flügeln der Sehnsucht
Sie sind, Lena."
"Darf ich Ihren Namen erfahren?"
"Oh, entschuldigen Sie, bitte. Ich bin Werner Saalbach, Grundschullehrer aus einer kleinen Gemeinde in der Nähe von Pfronten." Er errötete ein wenig vor Verlegenheit.
"Was werden Sie jetzt tun? Sind Sie auf Urlaub hier in St. Veit?"
Er nickte. "Wie es weitergehen soll weiß ich noch nicht. In meine Schule kann ich jedenfalls nicht zurückkehren. Alles dort erinnert mich an Tina." Um seine Lippen zuckte es. "Sie ist auch schon fast zehn Monate tot. Dennoch kann ich sie einfach nicht vergessen."
"Bleiben Sie eine Weile bei uns in den Bergen", schlug Lena vor. "Ich weiß von mir selber, dass man seinen Kummer am schnellsten zu ertragen lernt, wenn man die majestätische Bergwelt ansieht und sich immer wieder sagt, wie klein und unbedeutend der Mensch eigentlich ist. Als Josef starb merkte ich erst, wie unwichtig doch der Einzelne ist. Kaum einer nahm Notiz vom Tod meines Bruders, außer dem Vater und mir selbst und ein paar Leuten aus dem Dorf."
"Als Tina zu Grabe getragen wurde, war der ganze Ort auf den Beinen", sagte Werner. "Ich hab geglaubt, dass alle sie vermissen. Doch als ich am nächsten Tag durch die Straßen ging, da standen die Leute schon wieder beisammen und unterhielten sich über irgendwelche Dinge. Sie lachten sogar, verstummten jedoch, wenn sie mich erkannten."
"Das dürfen Sie nicht überbewerten, Werner. Sie haben es gewiss nicht so gemeint. Und doch müssen wir alle akzeptieren, dass das Leben immer weitergehen muss, gleich, was geschieht oder was geschehen ist." Lena merkte, wie sie sich mit ihren tiefschürfenden Worten selbst tröstete. Es tat ihr gut, einmal ihre Gedanken laut aussprechen zu können. Zum Vater hatte sie es sich nie zu sagen getraut, weil sie ihm nicht hatte weh tun wollen.
Arco stand an der Tür und fixierte schon seit einiger Zeit die Türklinke. Schließlich wurde es ihm zu dumm, er hob die Pfote und begann mit Nachdruck zu kratzen.
Lena brach in Lachen aus. "Gleich, Arco", vertröstete sie den Hund. "Wir machen gleich unseren Rundgang." Hastig erhob sie sich. "Arco hat recht", sagte sie, zu Werner Saalbach gewandt. "Es wird höchste Zeit, dass wir nach dem Vieh sehen."
Es tat ihr selbst sehr leid, dass sie die vertraute Unterhaltung unterbrechen musste. Doch die Tiere hatten ihre Gewohnheiten, die sie nicht stören durfte. Nur einen kleinen Augenblick überlegte sie, ob sie nicht einmal eine kurze Ausnahme machen sollte, denn der Fremde beeindruckte sie sehr. Sie wollte sich auf einmal nicht mehr von ihm trennen, vielleicht, weil sie beide ein ähnliches Schicksal, einen geliebten Menschen verloren hatten. Aber da war noch etwas anderes, ein leises Pochen im Herzen, eine Sehnsucht nach etwas, das sie nicht in Worte fassen konnte.
Ja, Lena musste sich eingestehen, dass der Fremde ihr mit jeder Minute des Zusammenseins immer besser gefiel. Vergessen war Frank, der ihr bereits einen Heiratsantrag gemacht hatte, der ihr immer wieder zu verstehen gab, dass er sie gern sah, jedoch sorgfältig vermied, zu ihr von Liebe zu sprechen.
Jetzt war da ein anderer Mann, der ebenfalls nicht von Liebe zu ihr sprach, der sie auch nicht heiraten wollte, der jedoch zeigte, wie wichtig ihm ihr Vertrauen war, das sie ihm schenkte, und wie glücklich er über ihr Verständnis war, wenn es um seine Probleme ging.
Werner Saalbach erhob sich. "Jetzt hab ich Ihre Zeit lange genug in Anspruch genommen." Er reichte ihr die Hand und hielt die Ihre lange in der Seinen. "Darf ich wiederkommen?" fragte er mit samtweicher Stimme.
Lena nickte. "Ich freue mich, wenn ich hier in der Einsamkeit Besuch bekomme. Ich werde auch wieder ein Glas frische Kuhmilch für Sie bereitstellen und ein paar Brötchen dazu."
"Das sind wunderbare Aussichten." Zum ersten Mal zauberte er ein herzliches Lächeln in seine Augen. "Bis bald", sagte er sanft, dann ging er zur Tür.
Lena folgte ihm. "Bis bald", sagte sie leise. „Bis bald.“
* * *
Marion Palleda wohnte nun schon seit über einer Woche in St. Veit. Sie arbeitete gern auf dem Hof mit, konnte kräftig zupacken, da sie die Arbeit in der Landwirtschaft ja von zuhause gewöhnt war, und sie genoss es von Herzen, wenn sie endlich Feierabend machen und sich mit den beiden Männern in der guten Stube zusammensetzen konnte.
Auch für ihre Freizeit hatte sie einen festen Plan gemacht. Marion brauchte Struktur in ihrem
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