Auf den Flügeln der Sehnsucht
den Sinn gekommen, ihr treuloser Gerd, der ihr heute sogar einen Brief geschickt hatte. Bis jetzt trug sie ihn noch verschlossen in ihrer Jackentasche, denn sie ahnte ohnehin, was drinnen stand. Er wollte sie zurückgewinnen. Natürlich, so eine bequeme Freundin , die nicht nur die Augen zumachte vor seinen Eskapaden sondern auch gleich die Ohren, fand er so schnell nicht wieder.
Doch dafür war Marion sich zu schade. Zwar ta t die Wunde noch immer weh, aber langsam begann sie doch in den Hintergrund zu treten. Endlich hörte sie wieder den Gesang der Vögel und erkannte auch, wie schön ihr Leben vor der Beziehung zu Gerd gewesen war. Sie brauchte ihn nicht mehr, um glücklich zu sein.
"Ein Königreich für Ihre Gedanken. Ich beobachte schon eine ganze Weile Ihr wechselndes Mienenspiel." Werner blickte sie forschend an.
Marion lachte leise. "Ich... habe eben meine erste große Liebe endgültig verabschiedet", bekannte sie ehrlich. "Und ich muss gestehen, ich bin sehr glücklich darüber."
"Möchten Sie es mir erzählen?"
"Sie sind ein Fremder."
"Eben deshalb", konterte er. "Ich habe am eigenen Leib erfahren, dass es einfacher ist, mit einer fremden Person über seinen Kummer zu s prechen als mit jemanden, dem man später womöglich täglich begegnen muss."
"Da könnten Sie recht haben, Werner. Doch mein Kummer ist eigentlich kein Kummer mehr. Ich... war verliebt in einen Kollegen, und er angeblich auch in mich. Zwei Jahre sind wir zusammen gegangen, ich war glücklich und fühlte mich bei Gerd gut aufgehoben. Dabei merkte ich gar nicht, dass meine lieben Kollegen hinter meinem Rücken tuschelten. Sie alle wussten mehr als ich, die Betroffene."
"Das ist meist so. Er hatte also eine andere Frau, wagte nur nicht, Ihnen die Wahrheit zu gestehen", half er ihr weiter. "Ich kann mir vorstellen, dass er noch immer an Ihnen gehangen hat und Sie nicht verletzen wollte. Womöglich hat er deshalb geschwiegen. Männer sind manchmal sehr feige."
"Wenn es nur so gewes en wäre, dann hätte ich ihm sicher auch verzeihen können", widersprach Marion zornig. "Gerd ist eigentlich kein Feigling. Wenn er die andere Frau, übrigens eine einstmals ziemlich gute Freundin von mir, sicher gehabt hätte, dann hätte er mir meinen Fußtritt schon verabreicht. Doch Angela ist verlobt, sie weiß noch nicht, welchen der beiden Bewerber sie nehmen soll."
"Das ist natürlich eine Zwickmühle."
"Zufällig hab ich ein Gespräch zwischen den beiden belauscht. Es war wirklich keine Absicht", versicherte sie. "Ich war in der Schulbibliothek, weil ich einige Bücher aussuchen wollte, um sie im Unterricht zu besprechen. Da ich mich gerade an einem der Regale befand, die von der Tür her nicht zu sehen sind, bemerkten mich die beiden nicht. Sie sprachen auch nicht gerade leise. Gerd erklärte Angela seine Liebe, doch Angela zierte sich, wie es ihre Art ist. Gerd jedoch beteuerte, er würde sofort die Verlobung mit mir lösen, wenn Angela ihm ihr Jawort gibt. Dann gingen die beiden wieder."
"Und Sie haben sofort die Verlobung gelöst."
"Nicht sofort. Erst musste ich diese hässliche Geschichte eine Weile sacken lassen oder besser, verdauen. Der Schock über diesen Vertrauensbruch saß so tief, dass ich erst einmal gar nicht fähig war zu reagieren. Zum Glück waren ein paar Tage später Ferien. Ich fragte meinen Bruder, ob ich zu ihm kommen könnte, ließ mich auf unbestimmte Zeit beurlauben und verschwand einfach. Nach zwei Tagen schickte ich ihm schweren Herzens den Verlobungsring in einem Einschreibebrief zurück."
Werner lachte herzlich. "Sie sind bewundernswert, Marion. In Ihrer Gegenwart könnte man richtig Lebensmut bekommen."
"Dann schießen Sie los. Jetzt sind Sie dran mit beichten. Wurden Sie auch so herzlos behandelt wie ich?"
Er schüttelte den Kopf, sein Lachen erlosch. "Tina hat mich nicht freiwillig verlassen. Sie ist bei einem Motorradunglück ums Leben gekommen. Wie eine Verrückte ist sie immer durch die Straßen gerast. Es war wie ein Rausch, der manchmal über sie gekommen ist."
"Das ist ja entsetzlich." Marion war stehengeblieben. Mitleidig legte sie eine Hand auf seinen Arm. "Danach sind Sie geflüchtet von dem Ort mit den vielen Erinnerungen."
Er nickte. "Fast ein Jahr ist es schon her, und ich reise seit damals ziellos durchs Leben und durchs Land. Manchmal bin ich so müde, dass ich einfach einschlafen möchte und nie wieder
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