Auf den Flügeln des Adlers
überrascht. »Du hast nicht mehr viele Freunde unter den Lebenden.«
»Ich werde niemals glauben, dass mein Enkel tot ist. Nicht, bevor ich seine Leiche nicht mit eigenen Augen gesehen habe«, erwiderte sie mit stählerner Entschlossenheit in der Stimme. »Und wie ich meinen Enkel kenne, ist er seinem Vater zu ähnlich, als dass man ihn so einfach umbringen könnte.«
Bei der Erwähnung von Michael Duffy erbleichte Granville. Zwei Albträume suchten ihn immer wieder heim. Einer davon war, dass er erwachte und in die Augen des Mannes blickte, der sich eines Tages an ihm rächen würde, sollten sich ihre Wege je wieder kreuzen.
Sein zweiter Albtraum war, alles an seine Schwiegermutter zu verlieren.
Doch dann gab es noch ein drittes Gespenst, das ihn des Nachts plagte. Ein Albtraum ohne wirkliche Substanz, nur ein vages Gefühl der Furcht vor einem Ort, den er noch nie gesehen hatte: einem Hügel auf Glen View, inmitten der endlosen Ebenen des Brigalow-Buschlands. Es war ein primitiver Ort, der einem Volk heilig gewesen war, das Sir Donald vor fast einem Vierteljahrhundert ausgelöscht hatte.
Enid spürte eine Welle der Zufriedenheit in sich aufsteigen, als sie sah, welches Unbehagen die Erwähnung von Michael Duffy dem verhassten Granville bereitete. Wenn sie doch nur die Zeit hätte zurückdrehen können! Sie hatte wenige Fehler begangen in ihrem Leben, aber es waren Irrtümer gewesen, die sie über Jahre hinweg verfolgten. Fehler, die als kleine Kreise im Wasser begannen und als tödliche, zerstörerische Flutwellen endeten. Fehlentscheidungen hatten Enid um die Liebe ihrer einzigen Tochter gebracht und sie in eine verbitterte, rachsüchtige Frau verwandelt. Lange schon hatte sich Fiona auf Granvilles Seite geschlagen. Dass sie ihm ihre Anteile verkauft hatte, war nur ein letzter Beweis dafür, wie weit sie gehen würde, um ihrer Mutter zu schaden.
Als Enid die Tür des Konferenzraums öffnete, entdeckte sie im Gang Colonel George Godfrey. Den Regenschirm über dem Arm, betrachtete er bewundernd ein Gemälde an der Wand. Granville, der Enid in den Korridor gefolgt war, blieb stehen, als er den früheren Offizier entdeckte.
»Guten Abend, Lady Macintosh, Mister White«, grüßte Godfrey höflich, während er sich von dem Bild abwandte. Er war keineswegs zufällig hier. Viele Male war er denselben Korridor hinuntergegangen, um Informationen weiterzugeben, die, richtig eingesetzt, eine entscheidende Rolle spielen konnten. »Ich hoffe, es ist nicht zu spät für einen Besuch.«
30
Dampf- und Rauchschwaden hüllten die auf dem Bahnsteig Wartenden ein, als das puffende Ungeheuer, das sonst über die Ebenen und Berge westlich von Sydney ratterte, in Central Station einfuhr.
Mit dem Zug kamen elegante Damen, Schafscherer mit trüben Augen, sehnsüchtig erwartete Post, Wollballen und junge Männer, die in der großen Stadt nach Arbeit suchen wollten. Die Eisenbahnlinien verbanden die weit entfernten Hauptstädte der Kolonien auf eine Weise, von der man noch vor kurzem nur hatte träumen können. Inzwischen konnten Reisende von Melbourne aus mit der Eisenbahn den Murray überqueren, um dann in den Zug nach Sydney umzusteigen. Möglich geworden war dies durch den Bau einer Brücke in der Nähe der Stadt Albury.
Draußen vor der Bahnhofshalle warteten Droschken, Kutschen, Rollwagen und einspännige Buggys auf Passagiere, Angehörige und Freunde. Wohlhabende Damen in den unbequemen, aber modischen Tournürenkleidern mischten sich unter ihre vom Schicksal weniger begünstigten Geschlechtsgenossinnen, die sich diesen Luxus nicht leisten konnten und daher schlichtere, weniger ausladende Kleider trugen.
Abenteuerlustige oder verzweifelte junge Frauen vom Land, die auf eine Stellung als Zofe oder Kindermädchen bei einer der vornehmen Familien der Kolonie hofften, stiegen aus dem Zug. Junge Männer in Moleskinhose und ihrem einzigen Hemd begaben sich auf die Suche nach einer billigen Absteige. Von dort aus würden sie sich nach Arbeit in einer der Fabriken oder auf einer der Baustellen der rasch wachsenden Stadt umsehen.
Aus einer eleganten Kutsche stieg ein würdiger älterer Herr in Gehrock und Zylinder, der sich einen Regenschirm über den Arm gehängt hatte. Mit den Blicken suchte er das Sandsteinportal des Bahnhofs nach dem Mann ab, mit dem er verabredet war.
Michael Duffy bezweifelte, dass er die kleine Pistole brauchen würde, die er bei sich trug, wenn Godfrey ihn abholte. Es war unwahrscheinlich, dass Granville
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