Auf den Flügeln des Adlers
ganz anders als die Frau, die er sich nach Fionas Beschreibung vor vielen Jahren vorgestellt hatte.
Mit im Schoß gefalteten Händen saß sie in ihrem Sessel. Nachdem er die beiden einander vorgestellt hatte, trat George Godfrey schützend neben sie. Offenbar verband die beiden eine lange, innige Freundschaft.
Im Hintergrund tickte unaufdringlich eine Uhr, und aus dem mit Sahne versetzten Kaffee in Michaels Becher stieg süßer Dampf auf. Ihm war bewusst, dass Lady Macintoshs smaragdgrüne Augen ihn eingehend abschätzten. Als junge Frau musste sie von berückender Schönheit gewesen sein. Es war offensichtlich, von wem Fiona ihr Aussehen geerbt hatte. Die intensive Prüfung war Michael nicht unangenehm, denn er hatte das Gefühl, dass Lady Enid etwas suchte.
Schließlich brach Godfrey das unangenehme Schweigen und räusperte sich. »Es tut mir Leid, wenn Sie irrtümlich annahmen, dass ich für Lady Macintoshs Schwiegersohn arbeite, Mister Duffy.«
»Ständiges Misstrauen ist ein Teil meines Lebens geworden, Colonel, damit habe ich mich abfinden müssen«, erwiderte Michael. »Allerdings verstehe ich nicht, warum Sie mir nicht gesagt haben, dass Lady Macintosh mich treffen wollte.«
Godfrey trat kaum merklich von einem Fuß auf den anderen, bevor er antwortete, sodass Michael klar wurde, wie unbehaglich er sich fühlte. »Wie Lady Enid war ich der Meinung, dass Sie sie vielleicht nicht sehen wollen.«
»In meinem Leben sind viele Dinge geschehen«, erwiderte Michael ohne jede Gefühlsregung. »Manche davon waren gut, die meisten schlecht. Aber in den letzten Jahren haben Sie sich in einer Weise um meinen Sohn gekümmert, die mich jede Feindseligkeit, die ich vielleicht einmal für Sie empfand, vergessen ließ. Ich weiß, dass Sie nichts mit den Vorgängen zu tun hatten, die mich gezwungen haben, aus der Kolonie zu fliehen, Lady Macintosh.«
Ein Ausdruck von Dankbarkeit huschte über ihre aristokratischen Züge. Die Zeit hatte die beiden in einem merkwürdigen, unvorsehbaren Bündnis zusammengeführt, denn in den Adern von Michaels Sohn floss ihrer beider Blut.
»Ich weiß, dass Ihr Leben voller Tragik war, Mister Duffy«, sagte Enid weich. »Mir ist klar, dass mein Widerstand gegen Ihre Bekanntschaft mit meiner Tochter vor vielen Jahren viel von dem Schmerz verschuldet hat, den ich in Ihrem Gesicht geschrieben sehe. Aber ich weiß auch, dass ich heute nicht anders entscheiden würde als vor zwanzig Jahren, wenn sich wieder dieselbe Situation ergeben würde.«
»Das habe ich von Ihnen auch nicht anders erwartet, Lady Macintosh«, erwiderte Michael angesichts ihrer Unbeugsamkeit mit einem bedauernden Lächeln. »Schließlich kenne ich Ihren Ruf.«
»Danke, Mister Duffy. Dann wissen wir beide, woran wir miteinander sind.« Nun, wo beider Haltung zu den alten Problemen geklärt war, schien sich Enid etwas zu entspannen. Sie nahm den Kaffee, den Godfrey ihr einschenkte, und fuhr fort. »Patrick gleicht Ihnen so sehr, Mister Duffy, dass ich mir in Ihrer Gegenwart sicher bin, dass mein Enkel nicht tot ist, ganz gleich, was die Armee vermutet. Als Sie meinen Salon betraten, habe ich gespürt, wie stark Sie sind.« Überrascht hob Michael die Augenbrauen, doch sie sprach weiter. »Sie sind ein ungewöhnlicher Mann. Ich habe gehört, dass Sie zahlreiche Kriege und Verwundungen überstanden haben. Ihr Leben war häufig in größter Gefahr, und dennoch haben Sie überlebt. Ich bin davon überzeugt, dass Patrick Ihre Stärke geerbt hat und noch am Leben ist. Ich muss zugeben, ich wollte Sie eigentlich bitten, mir bei der Suche nach seiner Leiche zu helfen. Aber jetzt, wo ich Sie gesehen habe, glaube ich fest daran, dass Patrick noch lebt.«
Nach diesen aufrichtigen Worten empfand Michael eine merkwürdige Zuneigung für Enid. Er stellte Tasse und Untertasse auf einem Beistelltisch aus poliertem Walnussholz ab. »Ich würde nie glauben, dass mein Sohn tot ist«, sagte er. »Er hat das Glück der Iren.«
»In seinen Adern fließt auch das Blut von Engländern und Schotten, Mister Duffy«, erinnerte Enid ihn ruhig. »Ich hoffe, er hat auch deren Glück.«
»Das auch«, erwiderte Michael mit einem grimmigen Lächeln. »Wenn wir ihn wohlbehalten wiederfinden wollen, wird er auch alles Glück brauchen, das er kriegen kann.«
»Ich glaube, wenn ihn jemand findet, dann Sie, sein Vater.«
»Offenbar haben Sie und der Colonel einen Plan«, stellte Michael fest. »Wenn das so ist, bin ich dabei, das kann ich Ihnen versichern,
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