Auf den Flügeln des Adlers
Peters Tod, der auch seine Liebe zu Sarah bedrohte, hielt ihn fest im Griff.
Wallarie kam in der Nacht. Er hatte Angst, denn er brach ein Tabu: Es war verboten, sich den Toten zu nähern. In einiger Entfernung von dem frischen Grab ließ er sich auf der Erde nieder und sang ein Totenlied, um Peters Geist auf dem Weg in die Traumzeit zu begleiten. Wenigstens hatte er den Initiationsritus vollzogen, und Peter war nun ein Mann der Darambal, tröstete er sich, während er im Schneidersitz in der Dunkelheit saß.
Bald würde die Sonne aufgehen. Dem alten Krieger war bewusst, dass er das Land, das einst die Jagdgründe seines Volkes gewesen war, wieder verlassen musste. In der Kolonie gab es immer weniger sichere Gegenden, denn die Zahl der Europäer wuchs ständig, und sie besiedelten auch die entlegensten Gebiete. Wohin sollte er sich wenden? Die Geister der Traumzeit sprachen nicht länger zu ihm. Wo konnte er seine letzten Tage in Sicherheit verbringen? Nie zuvor hatte er sich so allein gefühlt.
Als über der Ebene die Sonne aufging, stand Wallarie auf und hob sein Gesicht zu dem Hügel, der aus dem Busch ragte. War da nicht ein Raunen im Wind? »Weißer Mann wird Wallarie nicht fangen«, schwor er den Geistern seiner Vorfahren. Die Geister seines Volkes hatten ihn von weit her gerufen. Er würde an einen Ort gehen, wo er in Sicherheit war und wo vor vielen Jahren einem Mann des Geistes ein Versprechen gegeben worden war – einem Mann der Religion der Weißen.
Vielleicht war es das letzte Mal, dass er die Freiheit seiner traditionellen Lebensweise erfuhr. Vielleicht auch nicht. Er griff nach seinen Speeren und tat den ersten Schritt auf der Suche nach einem Mann, der aus einem Land von jenseits des Meeres gekommen war.
43
Die Bibliothek ihrer Mutter weckte in Fiona traurige und bittere Erinnerungen. Hier hatte fast ein Vierteljahrhundert zuvor die entsetzliche Konfrontation der beiden stattgefunden. Damals war sie ein junges Mädchen gewesen, das bis über beide Ohren in den gut aussehenden Michael Duffy verliebt war.
Wieder stand sie im Dämmerlicht der Bibliothek ihrer Mutter gegenüber, zu der sie in der Zwischenzeit jeden Kontakt abgebrochen hatte. An der Feindseligkeit, die zwischen ihnen herrschte, hatte sich kaum etwas geändert. Sie wechselten giftige Blicke.
»Wenn du willst, kannst du dich setzen«, sagte Enid kühl, während sie sich hinter ihrem großen Holzschreibtisch niederließ. »Ich werde Betsy Tee für uns bringen lassen.«
»Danke.« Fiona ließ sich keinerlei Gefühle anmerken. Die Anrede »Mutter« brachte sie nicht über die Lippen.
Auf Enids Klingeln hin betrat Betsy den Raum. Enid erklärte ihr, dass sie den Tee in der Bibliothek einnehmen würden. Das Mädchen nickte. Erst als Betsy gegangen war, brach Enid das eisige Schweigen. »Ich bin etwas überrascht, dass du mich zu sehen wünschst, Fiona. Hat es einen Todesfall in der Familie gegeben?«, erkundigte sie sich sarkastisch.
»Ich vermisse deine Gegenwart genauso wenig wie du meine.« Fiona war entschlossen, sich von ihrer Mutter nicht unterkriegen zu lassen. »Um dieses Treffen habe ich dich gebeten, weil sich in letzter Zeit Dinge ereignet haben, die dich genauso betreffen wie mich.«
»Du meinst vermutlich die Nachricht, dass mein Enkel wohlbehalten zu seinem Regiment zurückgekehrt ist?«
»Dein Enkel?« Fiona stieß ein kurzes, bitteres Lachen aus. »Du meinst wohl meinen Sohn.«
»Du hast ihn kurz nach seiner Geburt aufgegeben, Fiona«, hielt Enid dagegen. »Solltest du das vergessen haben?«
Fiona kämpfte darum, Wut und Bitterkeit nicht die Oberhand gewinnen zu lassen, erblasste jedoch. Sie hatte damals nicht nur ihren Sohn, sondern auch ihr geliebtes Kindermädchen verloren, das für sie wie eine Mutter gewesen war. Sie fasste sich wieder, und die Röte kehrte in ihre Wangen zurück. »Ich weiß, welche Lügen du meinem Sohn erzählt hast, Mutter«, erwiderte sie. »Mir ist klar, dass du ihn davon überzeugt hast, dass ich ihn nie wollte, genau wie du mich nie wolltest. Oh, ich weiß, dass du ihm erzählt hast, ich hätte ihn in eines dieser entsetzlichen Pflegehäuser geben wollen, damit ich Granville heiraten konnte.«
»Hast du dich etwa nicht damit einverstanden erklärt, Patrick wegzugeben?«, konterte Enid triumphierend.
»So war es nicht«, flüsterte Fiona mit erstickter Stimme. »Ich war jung und verwirrt. Du hast mich davon überzeugt, dass es für mich und meinen Sohn das Beste wäre, wenn ich ihn
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