Auf den Flügeln des Adlers
Patrick hatte das Gefühl, eine bösartige Macht lachen zu hören. »Koste es, was es wolle, ich werde die beiden finden«, stieß er hervor. »Koste es, was es wolle.«
DER STURM
1886
48
Catherine fühlte den kuss der Sonne auf ihrem Gesicht. Üppiger Blumenduft stieg ihr in die Nase. Sie räkelte sich wie eine Katze und schlug langsam die Augen auf, um den Zauber des ägäischen Morgens zu genießen.
»Michael«, murmelte sie und streckte die Hand aus, um ihn zu berühren. Doch sie griff ins Leere. Sie setzte sich im Bett auf, um sich im Hotelzimmer umzusehen, und entdeckte ihn am Fenster, das einen Panoramablick auf das Meer bot. Er wandte ihr den Rücken zu und schien tief in Gedanken versunken. Ihre Gegenwart hatte er offenbar völlig vergessen.
»Michael«, rief sie erneut mit leiser Stimme. Diesmal wandte er sich um und lächelte ihr zu.
»Hast du gut geschlafen?«, fragte er, während er sich von seinem Stuhl erhob, zu ihr kam und sich auf die Bettkante setzte.
»Hervorragend«, schnurrte sie. Sie streckte die Hand aus und berührte sein Gesicht. »Aber warum bist du so früh schon angezogen?«
Michael schien zusammenzuzucken. Seine Antwort kam zögernd. »Ich musste über vieles nachdenken«, erwiderte er. »Aber es hat bestimmt nichts mit dir zu tun«, setzte er sanft hinzu, als er die zarte Liebkosung ihrer Hand auf seinem Gesicht spürte.
»Warum kommst du nicht wieder ins Bett?« Catherine schlug die Decke zurück und entblößte ihren nackten Körper, doch Michael ignorierte die Einladung. Stattdessen erhob er sich und ging wieder zum Fenster. Catherine war verletzt, aber vor allem fühlte sie Panik in sich aufsteigen. War er ihrer müde?
Fand er sie nicht mehr attraktiv? Doch wenn es so war, warum hatte sie keine Anzeichen dafür bemerkt? Sie hatte keine Antwort auf ihre Frage. Seit sie ihm nach London gefolgt war, hatten sie ein Leben voller Abenteuer und Leidenschaft geführt. Sie erinnerte sich noch an sein schockiertes Gesicht, als sie ihre Tasche in seinem Hotelzimmer auf den Boden fallen gelassen und ihm erklärt hatte, sie wolle seine Geliebte werden. Er hatte protestiert, aber sie hatte ein Verlangen in seinen Augen entdeckt, das seinen Worten widersprach. Dieser Blick war ihr schon aufgefallen, als er im Haus der Fitzgeralds in Irland ihr Porträt malte.
Von jenem Tag an hatte sie auf seiner Reise durch die großen Städte Europas sein Bett und sein Leben mit ihm geteilt. Es kam ihr vor, als wäre er auf der Suche. Immer wieder hielt er an, um Landschaften zu malen, war aber mit dem Ergebnis nie zufrieden. Sie sah den Schmerz auf seinem Gesicht, wenn er zurücktrat, um sein fertiges Werk zu betrachten. Niemals behielt er ein Gemälde, sondern verkaufte sie zu einem lächerlichen Preis an jeden, der ein Andenken an den betreffenden Ort erstehen wollte.
Wenn sie neben ihm lag, fragte sie sich, worin die Anziehungskraft dieses Mannes bestand, der alt genug war, ihr Vater zu sein. Ihr kam er vor wie ein alter, kampferprobter Bär: stark und doch verwundbar. Auch wenn es hieß, er habe viele Menschen getötet, blieb seine Sanftmut davon unberührt. In diesen ruhigen Augenblicken dachte sie an Patrick und fragte sich, was hätte sein können. Sein langes Schweigen deutete darauf hin, dass der Sohn nicht die Willenskraft des Vaters besaß. Offenbar wollte er sich nicht auf das einlassen, was sie zu geben hatte. Manchmal war sie versucht, Michael von ihrer Begegnung mit Patrick zu berichten, doch sie spürte, dass sie ihn damit nur verletzen würde. In seinem Leben hatte es ohnehin nicht viel Glück gegeben. Soweit sie wusste, hatte niemand Michael erzählt, dass Patrick das irische Dorf ein Jahr vor ihm besucht hatte. Es lag nicht in der Natur der Dörfler, einen Mann zu betrüben, der zur lebenden Legende geworden war.
In Michaels Armen fand Catherine Zufriedenheit, und für den Augenblick zählte nur das. Sie fühlte, dass sie dem gequälten Mann ebenfalls ein wenig Frieden schenkte. Es war unwichtig, dass sie nur für den Tag lebte – auch das entsprach ihrem Wesen.
Ihre Reisen durch ganz Europa hatten sie schließlich in ein kleines Hotel mit Blick auf die Ägäis geführt. Michael schien sich in der Wärme des griechischen Frühlings wohl zu fühlen, und Catherine bewunderte die Leichtigkeit, mit der er sich an die verschiedensten Kulturen anpasste. Manchmal erzählte er ihr von den exotischen Ländern des Fernen Ostens. Er war ihr Marco Polo. Durch ihn lernte sie die
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