Auf den Flügeln des Adlers
Essen keine Gelegenheit gefunden hatte, mit ihm zu reden, aber die Cohens hatten den Kindern Eiskrem versprochen, und die Eisdiele schloss bald.
Willie schwang sich in den Sattel und ritt der Kutsche nach, die schwankend Kates von Bäumen gesäumte Einfahrt hinunterrumpelte. Sarah, die ihm nachgewinkt hatte, drehte sich um und kam auf die Veranda zu. Kate fiel erneut auf, wie schön sie geworden war. Tom und Mondo wären stolz auf ihre Tochter gewesen, dachte sie. Den exotischen Teint hatte Sarah von ihrer Mutter geerbt, die feinen Gesichtszüge dagegen vom Vater. Sie runzelte die Stirn, wobei sie die vollen Lippen leicht öffnete, sodass ihre makellos weißen Zähne sichtbar wurden. Am auffälligsten waren jedoch die hellblauen Augen. Viele Männer, die von ihrem Gesicht bezaubert waren, wollten nicht glauben, dass in den Adern dieser schönen, begehrenswerten Frau tatsächlich Darambal-Blut floss. Das lange, dunkle Haar hatte sie auf dem Kopf zu einem Knoten zusammengesteckt, und sie bewegte sich mit der mühelosen Anmut, die das Volk ihrer Mutter auszeichnete. »Stimmt was nicht?«, erkundigte sich Kate, als Sarah die drei Stufen zur Veranda hinaufstieg.
»Warum fragst du?«
»Weil du die Stirn runzelst.«
Sarah blieb stehen und drehte sich nach dem Reiter um, der der Kutsche folgte. »Ich wollte Willie sagen, wie Leid mir Jennys Tod tut, Tante Kate, aber er meinte, es sei sowieso alles egal. Er benimmt sich sehr merkwürdig.«
»Jeder Mensch versucht auf seine eigene Weise, sich gegen Schmerz und Kummer zu schützen. Wahrscheinlich ist das Willies Art. Er hat seine Mutter sehr geliebt.«
»Ich weiß.« Sarah wandte sich wieder ihrer Tante zu. »Aber er hat auch gesagt, dass er seinen Vater finden und mit ihm abrechnen will. Als ich ihn fragte, ob er Ben meint, sagte er: ›Nein, meinen echten Vater. ‹ Außerdem will er nie wieder nach Jerusalem zurückkehren, zumindest hat er das gesagt.«
Kate fühlte erneut die alte Angst in sich aufsteigen. Sein echter Vater! Also hatte Jenny ihrem Sohn von Granville erzählt. Aus dieser Enthüllung konnte nichts Gutes entstehen. Michael hatte ihr geschildert, wie gefährlich und bösartig Granville war. Sie würde Michael um Rat fragen, wenn er am Abend kam.
Ihr großer Bruder hatte das Herz seiner Nichte im Sturm erobert. Seit das junge Mädchen dem legendären Onkel bei dessen kurzem Besuch am Vortag zum ersten Mal begegnet war, schwärmte sie für ihn. Ihr Bruder verstand es eben, Frauen jeden Alters zu bezaubern!
Das sanfte, friedliche Licht der am westlichen Horizont untergehenden Sonne lag über dem stillen Buschland. Schwärme von rosafarbenen und grauen Kakadus kreisten lärmend am Himmel. Kate hob den Blick. Wo würde Luke in dieser Nacht sein Lager aufschlagen? An einem Wasserloch, wo er an sie denken würde? Oder hatte er ein sicheres Haus erreicht?
Sie verdrängte die sorgenvollen Gedanken und richtete den Blick auf die Füße ihrer Nichte. Stirnrunzelnd stellte sie fest, dass Sarah keine Schuhe trug, eine Gewohnheit aus ihrer Kinderzeit, die sie immer noch nicht abgelegt hatte. »Geh und zieh dir Schuhe an, junge Dame«, sagte sie bestimmt, aber nicht unfreundlich. »Dein Onkel Michael könnte zu dem Schluss kommen, dass seine Nichte doch noch nicht ganz erwachsen ist.«
Das junge Mädchen schmollte bei dieser Zurechtweisung, doch dann strahlte sie, als sie an ihren Onkel dachte, den sie erst am Vortag kennen gelernt hatte. Schließlich hatte er versprochen, ihr ein Geschenk mitzubringen.
Voller Vorfreude hüpfte sie über die Veranda. Kate lächelte. Noch nicht ganz Frau, dachte sie wehmütig, aber auch nicht mehr das kleine Mädchen, das hinter den Brüdern und Gordon James hertrottete.
14
Als er die Lagerhalle der Firma Wong und Söhne betrat, fühlte sich der Besucher in den Fernen Osten versetzt. Aus seiner Zeit in Cochinchina, Schanghai, Hongkong und Singapur waren Michael Duffy die duftenden Kräuter und exotischen Gewürze vertraut. Der kühle, hohe Raum, in dem sich Kisten, Krüge und Zedernholzschachteln bis unter das Dach stapelten, wirkte nach dem Gestank der Abwässer von Townsville wie eine Oase.
Nachdem sich seine Augen an das Dämmerlicht im Inneren der Lagerhalle gewöhnt hatten, entdeckte er einen kräftigen Eurasier, der sich mit einem kleineren Chinesen herumstritt. Der Eurasier, der so groß war wie Michael, war so damit beschäftigt, den anderen auf Chinesisch zu beschimpfen, dass er den Neuankömmling gar nicht
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