Auf den Flügeln des Adlers
Mund starrte sie das schöne Kleid an und gab leise Laute der Überraschung und Freude von sich. Es war das herrlichste Kleid, das sie je gesehen hatte! Kate hatte er einen Lyrikband des australischen Dichters Henry Kendall mit dem Titel Lieder aus den Bergen mitgebracht.
Sarah zerquetschte ihren Onkel fast vor Dankbarkeit und verschwand dann, um das Kleid anzuprobieren. Sie würde schon einen Vorwand finden, um es zu tragen, wenn Gordon das nächste Mal auf Urlaub nach Hause kam.
Als sie fort war, folgte Michael Kate auf die Veranda vor dem Haus. Dort konnten sie die kühle Abendluft bei einer Flasche Rum genießen. Auch Kate trank gelegentlich gern einen Schluck. Auf den harten Trecks, die sie mit ihren Ochsenkarren durch Schlamm und Staub zurückgelegt hatte, war ein wenig Rum am Ende des Tages immer willkommen gewesen, weil er über die körperliche und geistige Erschöpfung hinweggeholfen hatte.
Liebevoll sah sie den Hünen an, der es sich in einem Sessel auf der Veranda bequem gemacht hatte, und dachte wehmütig an die entsetzlichen Dinge, die er in seinem unruhigen Leben gesehen und getan haben musste. Seine Jugend war vorbei, und seine Träume, Maler zu werden, so gut wie vergessen. Oh, Michael, mein armer, geliebter Bruder, wirst du jemals den Frieden finden, den du so verdienst?, dachte sie, während sie beobachtete, wie er in die weichen Schatten der warmen Nacht hinausblickte. »Du wickelst die Frauen immer noch um den Finger wie in unserer Jugend, als du mir und Tante Bridget das Herz gebrochen hast«, sagte Kate, während sie sich neben ihrem Bruder niederließ. »Damals gerieten sich die Mädchen, die für Onkel Frank arbeiteten, deinetwegen in die Haare, und meine Freundinnen wollten dir unbedingt vorgestellt werden.«
Michael lachte leise über diese Schmeichelei. »Das muss lange her sein«, meinte er grinsend. »Ein einäugiger, vom Kampf gezeichneter Mann im Herbst seines Lebens ist bei den Damen nicht so recht gefragt. Vor allem, wenn er keine anständige Arbeit hat. Viel Liebe gibt es in meinem Leben nicht«, setzte er ruhig hinzu, »wenn man von gelegentlichen Besuchen in irgendeinem chinesischen Bordell absieht.«
Seine Offenheit schockierte seine Schwester nicht. Sie spürte dass sie eine der wenigen Frauen in seinem Leben war, denen gegenüber er seine Gedanken frei äußern konnte. »Du kannst doch sesshaft werden und die Vergangenheit hinter dir lassen. Du weißt, dass es hier immer Arbeit für dich gibt«, drängte sie ihn sanft. »Luke hält dich für einen der besten Menschen, die er kennt. Gott allein weiß, warum, wo er deinetwegen zweimal fast ums Leben gekommen wäre«, setzte sie ein wenig irritiert hinzu.
Luke und Michael hatten gemeinsam im Auftrag von Horace Brown verhindert, dass die Deutschen den südlichen Teil von Neuguinea annektierten. Danach hatten sie eine Rettungsexpedition für eine von Morrison Mort verschleppte Cochinchinesin organisiert.
»Ich wünschte, ich könnte das tun, Kate«, seufzte Michael. »Aber ich muss noch einen Auftrag erledigen, bevor ich dein großzügiges Angebot auch nur in Betracht ziehen kann.«
»Dahinter steckt bestimmt wieder dieser bösartige kleine Engländer, stimmt’s?«, fauchte Kate, der mit einem Schlag klar wurde, dass ihr Bruder weit davon entfernt war, Frieden zu finden. »Ich hoffe nur, du willst nicht meinen Mann für seine Pläne rekrutieren.«
»Ich rekrutiere niemanden mehr, Kate. Ich brauche nur John Wong, und der hat sich schon bereit erklärt, mit mir nach Sydney zu gehen.«
»Nach Sydney! Bist du verrückt?«
»Wahrscheinlich«, gab er zurück, während er sein Glas hob und gegen das Licht des aufgehenden Mondes hielt. »Aber ich muss mich mit meiner Vergangenheit auseinander setzen, nicht nur einen Auftrag ausführen.«
Im Halbdunkel der Veranda starrte Kate ihren Bruder an. sie beobachtete die Schatten auf seinem Gesicht, um zu sehen, ob sich sein Ausdruck veränderte. Dass Michael O’Flynn in Wirklichkeit Michael Duffy war, gehörte zu den am schlechtesten gehüteten Geheimnissen in der Kolonie Queensland, überlegte sie zunehmend beunruhigt. Die Gerüchte waren mit Sicherheit auch der Polizei in Sydney zu Ohren gekommen. »Mit deiner Vergangenheit meinst du wohl Missus Fiona White«, sagte sie, um zu betonen, dass die erste große Liebe ihres Bruders eine verheiratete Frau war.
»Fiona, ja«, sagte er verträumt, während er weiter durch das Glas auf den riesigen gelben Mond blickte. »Und andere.«
Kate
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