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Auf den Inseln des letzten Lichts

Auf den Inseln des letzten Lichts

Titel: Auf den Inseln des letzten Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Lappert
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Schleifpapier. Das Boot, das auf Holzrollen stand, war zu zwei Dritteln neu gestrichen. Drei Paar Ruder lehnten an der Hüttenwand, der rostige Anker lag auf einem aufgewickelten Seil. An Bambusgerüsten hingen Netze, von denen ein fauliger Geruch ausging. Fische, kurz wie ein Zeigefinger, waren an einer Schnur aufgefädelt, die sich von einem Pfahl zum Dach der Hütte spannte. Obwohl er sich nicht vorstellen konnte, jemals so hungrig zu sein, um getrocknete Fische zu essen, pflückte Tobey ein paar und steckte sie in die Hosentaschen. Montgomery durchstöberte Eimer und Säcke und förderte aus einer Werkzeugkiste eine Dose Cola zutage, öffnete sie und reichte sie ihm.
    »Danke«, flüsterte Tobey und trank einen Schluck.
    Nachdem sie die Dose geleert hatten, suchten sie nach weiteren Lebensmitteln und fanden stattdessen einen in alte Tücher gewickelten Außenbordmotor. Es war noch immer dunkel, aber der Spalt zwischen Meer und Himmel wurde breiter und füllte sich mit einem Glühen, dasfarblos und schwach und trotzdem von Energie durchdrungen war. Tobey schätzte, dass ihnen keine halbe Stunde blieb, um den Motor ins Boot zu heben und das Boot irgendwie ins Wasser zu bekommen, bevor entweder die Sonne aufging oder die Männer in der Hütte erwachten. Sie knieten sich nebeneinander hin und schälten den Motor aus den dreckigen Laken. Es war ein Tohatsu , ein klobiges, blaulackiertes Teil, das trotz der vielen Schrammen und Beulen aussah, als würde es funktionieren. Als Tobey daran rüttelte, hörte er das Benzin im Tank schwappen. Er sah sich nach einem Kanister um, fand aber keinen.
    »Was meinst du?«, fragte er Montgomery leise und deutete auf das Meer.
    Montgomery saß im Schneidersitz und mit hängendem Kopf da. Die Finger seiner rechten Hand hielten einen Zipfel des Lakens fest, wie Chester Rosalindas Rocksaum immer festgehalten hatte. Er hob den Kopf und sah Tobey an. Seine Augen waren leer, als habe er sie gerade erst geöffnet und müsste sich nun in einer fremden Welt zurechtfinden.
    »Sollen wir mit dem Boot aufs Meer?«, flüsterte Tobey.
    Montgomery ließ das Laken los, fuhr mit dem Finger durch den Sand und seufzte. Die Luft schien aufgeladen mit blauem körnigem Licht und ließ das Gesicht des Bonobo für einen Moment klar aufscheinen. Tobey kam es vor, als sähe er zum ersten Mal, wie alt der Menschenaffe war, wie spärlich das Fell an manchen Stellen die faltige, fleckige Haut bedeckte, wie runzlig und ledern die Ohren vom Kopf abstanden, wie schlaff das Fleisch an den dünnen Armen hing. Ein Greis, dachte er und bereute, Tanvir nie nach Montgomerys Alter gefragt zu haben.
    Gerade als Tobey ihn berühren wollte, sanft wie einen Schlafenden oder Trauernden, erhob sich Montgomery und ergriff das Laken an zwei Ecken. Tobey tat es ihm gleich, und zusammen trugen sie den Motor zum Boot und hievten ihn ins Innere, ständig darauf bedacht, keinen Lärm zu machen. Am Horizont drängte immer mehr Licht nach oben und ließ ein zerfasertes Wolkenband flirren. Das Blau der Dämmerung, in der alles schwerelos und verschwommen war, wechselte fast unmerklich den Grad seiner Helligkeit. Bald würde sich das kühle Halbdunkel in ein schmutziges, farbloses Übergangsglimmen verwandeln, dann, für die Dauer weniger Minuten, in ein warmes Gelb und schließlich in einhartes, grelles Weiß, aus dem jeder Gegenstand wie ausgestanzt hervortreten würde.
    Tobey ging zum Heck des Bootes und lehnte sich dagegen. Das Boot bewegte sich, glitt auf den Stämmen ein paar Meter dem Meer entgegen, das noch immer ruhig war, flach und still. Montgomery hob die glattgescheuerten Pfähle hinter Tobey auf, trug sie zum Bug und legte sie unter den Schiffskörper. Fünfzehn Minuten, dachte Tobey, vielleicht nur zehn. Das war die Zeit, die sie brauchten, um das Boot ins Wasser zu schieben und so weit hinauszurudern, dass sie den Motor starten konnten, ohne an Land gehört zu werden.
    Dann sah er den Mann. Es war der große Dürre, der vor der Zellentür Wache gestanden hatte. Er hielt ein Gewehr auf Tobey gerichtet, und sein Gesicht war wie erleuchtet von Triumph und Stolz. Tobey und Montgomery blieben stehen, wo sie waren, zwanzig Meter vom Meer entfernt, das Plätschern der sanften Brandung in den Ohren. Alles Blut schien aus Tobeys Kopf zu weichen, alle Luft aus den Lungen. Er wollte sich am Bootsrand festhalten, aber er schaffte es nicht, den Arm zu heben. Der Mann rief etwas und fuchtelte mit dem Gewehr. Tobey hörte die Stimme, sie

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