Auf den Inseln des letzten Lichts
mit zunehmender Dehydrierung den Verstand zu verlieren. Er hätte nach Kokosnüssen suchen sollen, als er Jussif an Land gebracht hatte, dachte er. Mit dem Schraubenzieher hätte sich die Basthülle bestimmt ablösen und ein Loch in die Schale stechen lassen. Er griff in die Hosentasche, zog einen Fisch hervor und roch daran.
»Hunger?« Er hielt den Fisch Montgomery hin.
Montgomery ließ den Kopf zurück auf das Gewirr aus Seilen sinken und blickte ins Leere.
Tobey biss ein Stück Fisch ab und kaute angewidert. »Jetzt lassen wir uns einfach treiben«, sagte er, bemüht, seine Stimme fest und klar klingen zu lassen. »Irgendwo werden wir schon landen.« Er nahm das trockene Laken vom Kopf und tauchte es ins Wasser. Unter der Sitzfläche befand sich ein Stauraum, der ihm erst jetzt auffiel. Er schob eine Plastikboje zur Seite und fasste ins Dunkel, förderte ölige Lappen, Knäuel verhedderter Angelschnur, Zündkerzen und ein paar Nägel zutage. Ganz zuhinterst lagen zwei mit einer gelben Flüssigkeit gefüllte Flaschen. Er öffnete eine und roch daran. »Benzin«, murmelte er. Montgomery sah ihn sekundenlang an, ein matter Film lag auf seinen Pupillen. Tobey wickelte sich das nasse Tuch um den Kopf, goss den Inhalt beider Flaschen in den Tank und startete den Motor. Hoch über seinem Kopf flog eine Möwe, und weil er fand, es spiele sowieso keine Rolle, welche Richtung er einschlug, beschloss er, ihr zu folgen.
Megan saß auf einem Stuhl an seinem Bett. Die Augen geschlossen, lauschte er ihrer Stimme. Spinnen und Schlangen, mit Zangen und Zähnen, sie werden dich fangen, du darfst nur nicht gähnen. Sommerwärmefloss durch das offene Fenster. Im Teich sprang ein Fisch durch die leuchtende Scheibe, die der Mond auf das Wasser warf, und klatschte zurück in sein dunkles Gefängnis. Wanze und Zecke, sie wollen dein Blut, kriechen unter die Decke, nun schlaf aber gut. Megan strich ihm über das Haar, dann stand sie auf und ging zur Tür, ein Geist im viel zu großen weißen Nachthemd, das sie in einer Kiste auf dem Dachboden gefunden hatte und anzog, wenn sie ihrem Bruder Angst machen wollte.
»Bleib hier!«, rief Tobey und öffnete die Augen. Der Mond hing so tief über ihm, dass er nur die Hand ausstrecken musste, um seinen vernarbten Bauch zu berühren. Das Meer war noch immer ein riesiger regloser Teich, jede Welle ein endloser flacher Hügel. Unter der Kuppel des Alls lag vollkommene Stille. Tobey schob das Laken weg, das er Stunden zuvor als Sonnenschutz über Montgomery und sich gebreitet hatte, und richtete sich auf.
Das Boot war leer. Tobey rief nach Montgomery, schrie den Namen in die Nacht hinaus, bis er so erschöpft war, dass kein Ton mehr aus seiner Kehle kam.
Zweiter Teil
SONGS
1
Der Hof lag zwischen Hügeln am Ende einer unbefestigten Straße. Das Meer war zwanzig Meilen entfernt, so weit wie der nächste Ort. Neben dem Wohnhaus, einem weiß verputzten Cottage mit zwei Kaminen, standen eine Holzscheune und zwei Ställe aus Stein. Das Scheunendach war mit Wellblech gedeckt, die übrigen Gebäude mit Schiefer. Eingezäunte Weiden zogen sich bis an die Hügelflanken hoch, Schafe vermischten sich mit den tiefen Wolken. Auf den flachen Feldern grasten Kühe, unter einem Baum stand ein Pferd, alt und braun und geduldig wartend, bis der Karren zu ziehen oder ein Baumstamm zum Sägebock zu schleifen war. Im Winter stieg Rauch aus den Kaminen, im Sommer hing Wäsche an den Leinen zwischen dem Haus und der Tanne, bunte Wimpel im Grün und Braun und Grau der Landschaft.
Zeit hatte hier keine Bedeutung, sie war die Dauer zwischen Sonnenaufgang und dem Verschwinden des Lichts, zwischen dem morgendlichen Melken und dem abendlichen Füttern, zwischen der Müdigkeit, die man sich aus dem bettwarmen Leib schüttelte, und der Erschöpfung, die ungezählte Stunden später den Körper wieder besetzte. Zeit war die Spanne, während der eine Kuh ihr Kalb austrug, die der Mais zum Wachsen und der Torf zum Trocknen brauchten. Zeit war der Tag, an dem ein Schaf geboren oder ein Schwein geschlachtet wurde, war die kühle Ewigkeit des Winters, der Atemzug eines Sommers.
Stunden, Minuten, Sekunden waren etwas für die Städter, so sah es Seamus O Flynn, und er schüttelte den Kopf, wenn seine Tochter allmorgendlich die Standuhr im Wohnzimmer aufzog, als würde nicht jeder Tag zwangsläufig damit beginnen, dass man noch vor dem Krähendes Hahns aufwachte und aus dem Bett stieg, um sich an die
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