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Auf den Inseln des letzten Lichts

Auf den Inseln des letzten Lichts

Titel: Auf den Inseln des letzten Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Lappert
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Arbeit zu machen. Als brauchte es Zeiger und Zahlen, um zu wissen, wann der Ofen befeuert oder die Gülle aufs Feld gebracht werden musste. Seamus O Flynns Leben verlief nicht im Minutentakt, nicht zwischen Terminen und festgesetzten Fristen; es richtete sich nach den Launen der Natur, nach dem Wetter, der Stimmung seiner Kühe, dem Auftreten von Schädlingen, nach dem Reifegrad des Korns, der Größe der Kartoffeln, dem Gewicht der Schweine.
    Schwankende Preise für Milch, Fleisch und Getreide waren im großen, zähen Fluss eines Jahres unbedeutende Wirbel, nichts, was Seamus O Flynn aus der Ruhe brachte. Sein Vater hatte sich nie um den Rest der Welt geschert, und er sah ebenfalls keinen Sinn darin. Beamte und Politiker hasste er, einen Kandidaten der Unabhängigen, den es während eines Wahlkampfes auf den Hof verschlagen hatte, jagte er mit geladener Schrotflinte von seinem Grund. Als er vom Heuboden fiel und sich zwei Finger brach, schiente er sie mit Holzstücken und Stoffstreifen, den vereiterten Backenzahn zog er sich eigenhändig. Es war schon eine klaffende Wunde nötig, um ihn zum Besuch des Arztes in Killorglin zu bewegen, denn auch wenn er handwerklich begabt war, nähen konnte Seamus nicht. Seit ein paar Jahren ließ seine Sehkraft nach, ständig verlor er seine Brillen in Ackerfurchen und auf den Weiden, und irgendwann hatte er sich das Gestell mit einem Stück Schnur um den Kopf gebunden.
    Jeden Tag stand er vor dem ersten Sonnenlicht auf, stapfte in der langen Unterwäsche, in der er schlief, einer Jacke und Gummistiefeln zum Stall und weckte den Hahn und die Kühe; weil er es nicht anders wusste. Und weil ihm vor lauter verbohrtem Eifer entging, dass er gegen den Strom schwamm, ohne von der Stelle zu kommen, dass sein Hof ein Verlustgeschäft war, eine Insel, vergessen in der Zeit, die er so hartnäckig ignorierte.
     
    Tobey verbrachte den ganzen Tag mit seinem Vater, half beim Füttern der Tiere, beim Ausmisten des Stalls, beim Mähen der Felder. Er schaute zu, wenn eine Kuh kalbte und die Lämmer ihre Ohrmarken bekamen, und er war dabei, wenn ein Schwein geschlachtet und einem Huhn mit der Axt der Kopf abgeschlagen wurde. Er liebte es, an einem Sommermorgenneben seinem Vater ein Feld entlangzugehen und die Größe der Maiskolben zu prüfen oder im Nebel eines Herbsttages auf einer Leiter zu stehen und Äpfel zu pflücken. Der Hof war für ihn die Welt; was darum herum sein mochte, interessierte ihn nicht, und er konnte sich nicht vorstellen, jemals woanders zu leben oder etwas anderes zu tun als sein Vater.
    Freunde hatte Tobey nicht, er brauchte keine. Wenn er reden wollte, hörte seine Schwester ihm zu, das reichte. Einmal im Monat fuhren sein Vater, Megan und er in die Stadt, mit dem Traktor oder dem öffentlichen Bus, weil sie kein Auto hatten. Dann sah er andere Kinder, studierte ihre Gesten und versuchte, ihre Sprache zu entschlüsseln, und kam jedes Mal zu der Überzeugung, dass sie unbegreifliche Wesen waren, mit denen er kaum etwas gemeinsam hatte und die sein Leben eher komplizieren als bereichern würden.
    Ganz alleine war er mit seinem Vater und seiner Schwester auf der Farm nicht. Eine Nachbarin kam jeden Tag vorbei, kümmerte sich um die Kinder, kochte, wusch die Wäsche und putzte. Briona war die Schwester von Robert Fanning, einem Bauern, dessen Hof ein paar Meilen entfernt lag. Als junges Mädchen hatte sie ihr Kind getötet und eine Gefängnisstrafe abgesessen, und jetzt war sie über vierzig und fand keinen Mann mehr. Jeder in der Gegend kannte ihre Geschichte, und obwohl alle voller Mitleid den Kopf schüttelten, wenn sie die große, bleiche Briona sahen, wollte niemand etwas mit ihr zu tun haben. Manchmal, während sie in der Küche das Frühstück bereitete, wurde sie von einem Hustenanfall geschüttelt, der so heftig war, dass Tobey davon aufwachte. Dann lag er da und dachte daran, was Feargal Walsh ihm erzählt hatte; dass Briona Fanning sich damals zusammen mit ihrem Baby umbringen wollte. Dass sie in einer eiskalten Winternacht in den Regen hinausgegangen sei und sich nackt ausgezogen habe. Dass sie am nächsten Tag im Krankenhaus in Tralee aufgewacht sei und ein Polizist an ihrem Bett gesessen und ihr gesagt habe, ihre Tochter sei tot. Tobey hatte kein Mitleid mit ihr. Weil sie im Haus war, kam seine Mutter nicht zurück. Weil sie so gut kochte, vermisste sein Vater die Frau nicht, deren Reich diese Küche einmal gewesen war, was ein Foto bewies, das Cait O Flynn in

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