Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auf den Inseln des letzten Lichts

Auf den Inseln des letzten Lichts

Titel: Auf den Inseln des letzten Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Lappert
Vom Netzwerk:
einem Kinderbuch vorlas, überlegte er, ob sie sich zu diesem seltsamen Wesen entwickelt hatte, weil sie ohne Mutter aufwuchs, und falls ja, wie viel Schuld ihn dabei traf. Vielleicht, dachte er dann, hätte er doch einmal versuchen sollen, seine Frau zu finden, mit der er noch immer verheiratet war, und sie zur Heimkehr zu überreden. Vielleicht saß sie irgendwo, einsam und reumütig, und wartete darauf, dass er sie auf den Hof zurückholte, auf dem sie in den ersten beiden Jahren so glücklich gewesen war. Aber dann erinnerte er sich an den Tag, an dem er von der Feldarbeit nach Hause gekommen war und Megan mit einem Strick am Geländer der Veranda festgebunden und Tobey schreiend in seinem Bettchen gefunden hatte,und wusste wieder, warum er nichts unternahm, um Cait aufzuspüren. Feargal Walsh hatte ihm damals geraten, die Polizei einzuschalten, und Aidan bot an, einen Freund, der bei der Sozialbehörde arbeitete, um Hilfe zu bitten, doch Seamus wollte die Schmach des Sitzengelassenwerdens vor niemandem ausbreiten, schon gar nicht vor wildfremden Beamten, die bestimmt Besseres zu tun hatten, als nach einer Frau zu suchen, die nicht gefunden werden wollte. Außerdem kannte er als Einziger den Inhalt des Briefes, den Cait ihm unter das Kopfkissen gelegt hatte, und so sollte es auch bleiben.
     
    Tobey beneidete seine Schwester um ihre Begabung, etwas so zu zeichnen, dass es auf den ersten Blick erkennbar war, und etwas so zu beschreiben, dass man gleich wusste, was sie meinte. Sie lehrte ihn geduldig das Alphabet und das Einmaleins, und obwohl Tobey sich anstrengte und mit sieben einfache Sätze schreiben, Kinderbücher lesen und sechzehn und elf zusammenzählen konnte, fühlte er sich neben ihr bisweilen wie ein Dummkopf. Es kam vor, dass sie ihm ein schwieriges Wort erklärte und er aufsprang und davonlief, so laut über den Hof brüllend, dass die Hühner auseinanderstoben.
    Er liebte Megan, aber da war immer eine unterschwellige Rivalität zu ihr, als ginge es darum, ein bisschen mehr als sie von der Aufmerksamkeit des Vaters zu erringen, mit der dieser sparsam haushielt, oder darum, sich in ständigem Kampf von ihr abzugrenzen und zu beweisen, dass sie im Grunde so verschieden waren wie Tag und Nacht. Als sie eingeschult wurde, genoss er es, seinen Vater, Briona und den Hof für sich alleine zu haben, aber schon nach ein paar Wochen fehlte sie ihm schrecklich. Zu Beginn erzählte sie ihm noch aufgeregt von allem Neuen, das sie erlebte; vom Schulgebäude, das nach feuchten Kleidern, Bohnerwachs und Büchern roch, von den Lehrerinnen und Lehrern, von den anderen Kindern, vom Unterrichtsstoff und den seltsamen Gesetzen des Pausenhofs, die sie erst langsam zu begreifen begann. Später wurden ihre Berichte knapper und nüchterner, und oft schwieg sie während des gesamten Abendessens und antwortete nur, wenn ihr Vater etwas wissen wollte. Einmal kam sie völlig aufgelöst nach Hause und schloss sich in ihrem Zimmer ein. Als sie nicht zum Essen erschien, verlangte Seamus, dass sie die Tür öffnete,und dann erzählte sie ihm unter Tränen, ein paar Jungen hätten auf dem Pausenhof eine Katze mit Steinen beworfen und sie habe einen der Jungen verprügelt und sei vom Schuldirektor in dessen Büro zitiert und mit drei Stunden Nachsitzen bestraft worden. Ein andermal verließ sie schon am Morgen die Schule, nachdem sie einen Vogel geborgen hatte, der in eine Scheibe geflogen und verletzt liegen geblieben war. Zudem kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen mit Mitschülern, die nicht selten körperlich ausgetragen wurden und für Megans Gegner mit Kratzwunden und blauen Flecken endeten. In einem Schreiben des Schuldirektors an Seamus O Flynn hieß es, Megan sei ein hochintelligentes Kind, dem leider die Fähigkeit abgehe, sich in ein System einzufügen. Nach Ablauf des ersten Halbjahres kam ihre Klassenlehrerin auf den Hof, um herauszufinden, ob die Eigenartigkeiten des Mädchens mit der Umgebung, in der es aufwuchs, zusammenhingen. In ihrem Bericht hieß es dann, die von Isoliertheit und dem Fehlen der Mutter geprägte familiäre Situation sei zwar nicht optimal, von der Einschaltung des Sozialamtes könne aber vorerst abgesehen werden.
    Nach jedem Vorfall nahm Seamus seine Tochter ins Gebet, und jedes Mal versprach sie, sich zu bessern. Sie ging zwar nicht so weit, sich an der Schule Freunde zu machen, aber sie tat auch nichts mehr, um die Zahl ihrer Feinde zu erhöhen. Im zweiten Jahr trat sie sogar der

Weitere Kostenlose Bücher