Auf den Inseln des letzten Lichts
er sich hauptsächlich bemühte, nicht unnötig aufzufallen. Er tat niemandem etwas zuleide, beteiligte sich weder an Mobbing noch an Raufereien, ließ im Sportunterricht andere auftrumpfen und dachte nur im Traum daran, eins der Mädchen anzusprechen, die, einem ungeschriebenenGesetz zufolge, den gutaussehenden, sportlichen und skrupellosen Jungs vorbehalten waren. Trotz seiner Erfolge im Schulorchester fühlte er sich als Versager, und die Band schien eine erstklassige Möglichkeit zu sein, endlich Freunde zu gewinnen und berühmt zu werden, wenn auch nicht weltweit, so für den Anfang zumindest in Killorglin und Umgebung. Dass Jason Dwyer ein exzentrischer, angeberischer Dummkopf und Tobey O Flynn der Bruder von Megan O Flynn war, störte ihn zwar insgeheim, aber in seiner Situation durfte er nicht wählerisch sein. Die beschränkte Auswahl an Kandidaten war dann auch der Grund, weshalb er Tobeys Fehlgriffe bei »Amazing Grace« und »Smoke on the Water« großzügig überhörte und Tobey als dritten Mann an Bord begrüßte.
Sie waren mit Volksmusik aufgewachsen, genau wie ihre Väter und Großväter. Rock ’n’ Roll nahmen sie als Hintergrundgeräusch wahr, hörten ihn aus einem vorbeifahrenden Auto, einem offenen Fenster, beim Drehen des Skalenknopfs eines Radios. Im Pub wippten sie mit den Füßen zu den gängigen irischen Liedern, in denen es um Liebeskummer und Sehnsucht, Heimatlosigkeit und Patriotismus ging; Dinge, die sie irgendwie kannten, für die sie aber noch keine eigenen Worte gefunden hatten. Sie lebten mit der traditionellen Musik, wie sie mit den Gaelic Games lebten, der Kirche und dem Wetter. Tobey übte in seinem Zimmer Tonleitern und Akkorde und vergaß die Zeit, bis Megan an die Wand klopfte oder laut zu singen begann. Jason, der schon mit neun über den Zaun geschaut und Rebellen wie Rory Gallagher, Van Morrison und Elvis Costello entdeckt hatte, drosch halbe Nächte lang in der Garage auf sein Schlagzeug ein, bis eine Bespannung riss oder ein Stock brach. Mick spielte zu Hause mit Eltern und Nachbarn und trat in unterschiedlichen Zusammensetzungen bei Hochzeiten, Geburtstagen und der Einweihung einer neuen Feuerwehrstation auf. Die Melodien ihrer Vorfahren waren ihre Hymnen, ihre Festgesänge, ihre Schlaflieder.
Und dann, mit elf, hörten sie zum ersten Mal »Smells like Teen Spirit« von Nirvana , und es war, als hätten sie Kontakt zu einem fernen Planeten aufgenommen, zu einer fremden Spezies. Sie lagen auf dem Boden in Jasons Zimmer, träge von zu viel Kuchen und Sprudel und vom Bereden so wichtiger Fragen wie der, ob Lynn Colfer einen Büstenhalter trug,während Jason von einem Sender zum nächsten zappte. Er besaß nicht nur als Einziger von ihnen einen eigenen Fernseher, sondern auch die Begabung, seiner Mutter das Geld für die unglaublichsten Anschaffungen abzuknöpfen. Zeugnis seines jüngsten Triumphs über ihren schwachen Willen war eine Satellitenschüssel, die Signale aus dem Weltraum empfing, Botschaften aus anderen Welten. Draußen regnete es, die Vorhänge waren geschlossen, und nur das warme Licht des Bildschirms erhellte ein wenig den Raum. Jason landete auf MTV, wo ein langhaariger Kerl Sätze brüllte wie »I feel stupid and contagious. Here we are now, entertain us!«, und die drei Jungen, gestern noch von der Welt abgeschottete Kinder und brave Nachlassverwalter einer musikalischen Tradition, wurden zu Abtrünnigen.
Sie musizierten weiterhin mit ihren Mitschülern und Cousins und Nachbarn, traten mit dem Jugendorchester am Saint Patrick’s Day und am Eröffnungstag der Puck Fair auf und brachten den Bewohnern des Seniorenheims ein Weihnachtsständchen. Sie ließen sich nichts anmerken, übten täglich Tonleitern und neue Lieder und spielten, was sie schon immer gespielt hatten, als wäre nichts geschehen. Erst wenn sie alleine waren, in Micks Übungsraum, in der Garage neben dem Haus von Jasons Mutter, in einem Keller, im Badezimmer eines leeren Hauses, im Wald, in einem Ruderboot auf dem Caragh Lake, in der unermesslichen Weite und Einsamkeit ihres Kopfes, übten sie heimlich andere Riffs, lernten andere Texte, warfen sich in andere Posen.
Barry Spillane wollte in die Band, die sich Eighties Best Breed nannte, aber Mick war dagegen. Der um ein Jahr ältere Barry passe nicht ins Bild, meinte er, außerdem sei das Akkordeon für Rockmusik völlig ungeeignet. Er sah sich als Gründer und Kopf der Band und beanspruchte das alleinige Recht, bestimmen zu
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