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Auf den Inseln des letzten Lichts

Auf den Inseln des letzten Lichts

Titel: Auf den Inseln des letzten Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Lappert
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wusste er es schon seit Jahren, aber an diesem Morgen hatte er endgültig Abschied genommen von der Idee, den Hof weiterzuführen. Er wollte kein Bauer mehr werden, schon gar nicht so einer wie sein Vater. Lieber würde er für einen Hungerlohn in einer Fabrik in Dublin arbeiten, als diesem halsstarrigen Idioten dabei zu helfen, den Karren noch tiefer in den Dreck zu fahren. Er erinnerte sich an Megans eindringliches Werben um Verständnis und Geduld, aber ihm war von beidem nichts geblieben. Er hatte die Entscheidung seiner Mutter, nicht mit ihnen leben zu wollen, längst akzeptiert und brachte kein Verständnis auf für diesen schwachen, feigen Kerl, der jeden Tag wie ein Gespenst herumschlich, als hätte sie ihn gerade erst verlassen. Seit er kein kleiner Junge mehr war und Dinge begriff, die ihn früher vor unlösbare Rätsel gestellt hatten, weigerte er sich, Seamus’ Gebrochenheit als Folge einer traumatischen Verletzung zu sehen. Und er weigerte sich auch, seinem Vater zu verzeihen, dass er Megan und ihn zu unfreiwilligen Zeugen seines kläglichen Abgangs machte.
    Tobey stützte sich auf die Ellbogen und blinzelte in die Helligkeit, diesich am Horizont gesammelt hatte. In weiter Ferne bewegte sich eine Frau, über deren Kopf wie Gedanken ein paar Möwen kreisten. Radiomusik wehte vom Parkplatz herüber, dann wurden mit einem dumpfen Geräusch Autotüren geschlossen, und bis auf den rasch verklingenden Motorenlärm und das kaum hörbare Rauschen der Wellen war es wieder still. Tobey zündete einen Joint an, rauchte ihn zur Hälfte, löschte die Glut mit Spucke und steckte ihn zurück in die Jackentasche. Er sank auf den Rücken und legte einen Arm über die Augen. Sein Körper wurde schwer. Nach einer Weile summte er den Song, den sie in der Nacht zuvor geprobt hatten. Er rief sich in Erinnerung, dass er seit vierundfünfzig Tagen volljährig war, aber die Freude darüber wich einer Wehmut und Leere, die er nicht begreifen konnte. Mit Jason, der im Dezember den magischen achtzehnten Geburtstag feiern würde, fieberte er bei jeder Gelegenheit dem Tag entgegen, an dem sie nach Dublin verschwanden, dem Ort künftiger Triumphe. War er alleine, fühlte er sich mutlos und hoffte noch immer auf ein Ereignis, das ihn davor bewahrte, wegzugehen.
    Vor ein paar Tagen hatte er zugesehen, wie sein Vater auf eine Leiter stieg, um eine Reihe loser Ziegel auf dem Scheunendach zu ersetzen, und sich vorgestellt, wie der schwerfällige Mann das Gleichgewicht verlor und stürzte. Zeitungsmeldungen fielen ihm ein, in denen von Unfällen auf Bauernhöfen berichtet wurde, von Stromschlägen, tretenden Kühen und einstürzenden Heubühnen. Während er seinen Vater beobachtete, wehrte er sich dagegen, ihm den Tod zu wünschen, hielt es aber nicht für verwerflich, mit etwas zu rechnen, das seiner Meinung nach längst hätte eintreten können, ja eintreten müssen: dass Seamus O Flynn durch seine Weltfremdheit, seinen Starrsinn und Geiz umkommen würde.
     
    Es war dunkel, als Tobey das Motorrad an der Mauer neben dem Haus der Spillanes abstellte. Das nächste Gebäude, ein hässlicher gelber Bungalow, stand fast hundert Meter entfernt am Ende eines Feldes, auf dem im Sommer ein paar Schafe und Pferde weideten. Das Land gehörte Barrys Großvater, der nicht zuließ, dass darauf gebaut wurde, solange er lebte. Hinter Bäumen waren Lichter zu sehen und das Blinken einer Ampel.
    Barry hatte das Motorrad gehört und kam aus dem Haus. Er winkte und ging über den Vorplatz, auf dem ein Ford Kombi und ein Lieferwagenstanden, beide mit dem Schriftzug der Metzgerei versehen. Er steckte in riesigen weißen Turnschuhen, einer dunkelgrünen Cargohose und einem grauen Kapuzenshirt. Zum Missfallen seiner Eltern, die ihn noch immer als ihren Nachfolger sahen, trug er die hellen, dünnen Haare schulterlang. In den letzten zwei Jahren hatte er es geschafft, sein Idealgewicht zu halten, und weil er mit achtzehn endlich aufgehört hatte zu wachsen, wirkte seine Größe nur noch imposant statt grotesk. Tobey sagte ihm, er wolle weg, nach Dublin, noch in dieser Nacht. Sie setzten sich im Hof auf die Plastikstühle, die im Garten der Spillanes gestanden hatten, bis Deirdre ihren Anblick nicht mehr ertragen konnte. »Hast du eine Bleibe?«, fragte Barry. »Werd schon was finden«, sagte Tobey.
    Eine Weile schwiegen beide. Jemand fuhr auf einem Fahrrad vorbei; bei jedem Schlagloch ertönte der helle Ton der Klingel. Vorne an der Straße rauschte kaum hörbar

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