Auf den Inseln des letzten Lichts
Bett.
Megan betrat das Zimmer, ohne anzuklopfen. Sie sah sich um und setzte sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch.
»Sam hinkt«, sagte sie nach einer Weile. Sie trug eine schwarze Pyjamahose und ein weißes T-Shirt. Draußen rauschten die Bäume, in die der Wind fuhr. Tobey schwieg. Bald würde es regnen, dachte er. »Ist dir egal, was?« – »Ja.« Megan stieß mit dem nackten Fuß gegen den Beutel. »Was ist da drin?« – »Nichts.« Megan sah ihren Bruder an. Tobey hielt ihrem Blick einige Sekunden lang stand, dann erhob er sich und nahm seinen Pass, ein Taschenmesser, ein Feuerzeug und eine Handvoll Kleingeld aus der Schreibtischschublade und verstaute alles in den Taschen der Lederjacke, die auf dem Bett lag. »Willst du weg?« Als Tobey nicht antwortete, kniete Megan sich hin, riss mit beiden Händen den Müllbeutel auf und zog ein Hemd daraus hervor. »Lass das!«, rief Tobey. Er nahm Megan das Hemd aus der Hand und ging in die Hocke, um es zurück in den Beutel zu stopfen. »Du kannst nicht einfach verschwinden!« Megan zerrte am Müllbeutel, bis er endgültig zerfetzt und die Kleidung auf dem Boden verstreut war. »Hör auf, verdammt!« Tobey stieß Megan weg und raffte die Wäschestücke zusammen.
Ein paar Sekunden lang stand Megan da und sah Tobey zu. Als sie nach einem Pullover griff, hielt Tobey ihr Handgelenk fest. Sie wand sich und riss sich los, sprang auf die Füße und trat nach dem Kleiderhaufen und nach Tobey. Er packte fluchend ihr Bein, und sie fiel hin und traf ihn mit dem Ellbogen am Mund. Er schrie auf vor Schmerz und Wut und wälzte sich über sie, drückte sie mit dem Gewicht seines Körpers nach unten und versuchte ihre Arme zu fassen, mit denen sie um sich schlug. Sie warf schnaubend den Kopf hin und her und rammte ihm ein Knie in den Rücken.
Nach einer Weile merkte Tobey, wie sie müde wurde, wie die Heftigkeit ihres Aufbäumens ermattete und ihr Atem sich beruhigte. Ihr von Haarsträhnen bedecktes Gesicht war weggedreht, die eben noch wütend funkelnden Augen hatte sie geschlossen, die Lider zitterten. Er ließ den Kopf sinken und spürte den Schweiß in ihrer Halsbeuge an seiner Wange, roch den Schlaf an ihrem T-Shirt. Sie atmete regelmäßig, die Anspannung in ihren Muskeln löste sich. Noch hielt er ihre Arme fest, fühlte ihren Puls, das Schlagen ihres Herzens. Er hob den Oberkörper und blickte auf sie hinunter. Sie wurde weich und drehte den Kopf, öffnete die Augen und sah ihn an. Die Vorstellung, sie ins Gesicht zu schlagen, erschöpfte ihn so sehr, dass er ihre Handgelenke freigab. Sie zog ihn zu sich herab, und er gab nach und versank, ein schweres Tier in einem warmen Moor. Er befand sich in einem Traum, nicht in der Wirklichkeit. Megan keuchte leise, ihre Lippen waren trocken. Sein Blut vermischte sich mit ihrem Speichel. Megan flüsterte. Hitze entströmte ihrer Hand. Tobey schloss die Augen, vergaß seine Kraft. Das Leben hörte auf, das alte zu sein. Draußen fielen die ersten Regentropfen.
5
Tobey wachte auf und wusste nicht, wo er war. Er lag in einem Bett, sein Kopf fühlte sich schwer an. Er drehte sich um, wartete, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Dann erkannte er den Stuhl, über dem seine Kleider hingen, die Pappkiste mit seinen Sachen, die Gitarre. Durch einen Spalt im Vorhang drang Licht. Tobey erinnerte sich an das Haus in Ranelagh, die schmutzig weiße Fassade, das Treppenhaus mit den ausgetretenen Stufen, die großen, kühlen Zimmer.
Er wälzte sich auf den Rücken und schloss die Augen. Unten in der Straße lärmte die Alarmanlage eines Autos wie ein aufgescheuchter elektrischer Vogel. Gestern waren sie eingezogen, erinnerte sich Tobey. Jason kannte den Besitzer des Hauses, einen alten Mann, für den er auf dem Wochenmarkt Moonboots, Mützen und Handschuhe verkaufte, billige Ware aus China und Taiwan. Albert Crotty bewohnte die vier Räume im ersten Stock. Tobey hatte ihn erst vor ein paar Tagen kennengelernt, als sie die seit Jahren leerstehende Wohnung besichtigten. Crotty war zweiundachtzig und klein und schmal wie ein Kind, das nicht essen will. Er trug graue Anzüge und schwarze Krawatten und Schuhe, und beim Zuhören kniff er die Augen zusammen. Tobey hatte seine besten Sachen angezogen, um bei dem alten Mann einen guten Eindruck zu machen, aber Crotty schien die Kaffeeflecken und Kugelschreibertinte auf dem eigenen Hemd nicht zu bemerken, geschweige denn Tobeys neues Jackett für besondere Anlässe. Die
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