Auf den Inseln des letzten Lichts
Astronauten zurückgelassen worden war. Sie hatte Geschichten für ihn erfunden, wilde Weltraummärchen: Der Ring des Saturns gehörte der Frau vom lieben Gott; auf dem Mars wurde in riesigen Bergwerken Schokolade abgebaut; Pluto war von sprechenden Hunden bewohnt. Später, als er größer war, hatte er sie nie für ihre Lügen zur Rede gestellt, wahrscheinlich, weil er sich schämte, ihr damals geglaubt zu haben. Vielleicht, dachte sie, sah ihr Bruder auch gerade irgendwo in den Himmel und erinnerte sich an die Sommernächte auf dem Hof und daran, wie sie über die Leiter auf das Scheunendach geklettert waren und weiter bis zur Milchstraße, wo es fliegende Traktoren gab und alle toten Kühe für immer glücklich weiterlebten.
Sie weinte nicht, es war das Salz, das in ihren Augen brannte. Sie stand auf und wischte sich die Erde von den nackten Armen. Ein kaum spürbarer Wind strich über sie hinweg. Ohne zu überlegen ging sie nach links, hatte die kahle Fläche bald hinter sich gelassen und betrat unversehens die weite Blätterkuppel eines Palmenhains. Diesmal erschrak sie nicht, als ein Schwein neben ihr auftauchte. Sie redete mit dem Tier, und es sah sie aufmerksam an, als wunderte es sich nur über die Sprache, in der es angesprochen wurde. Zwei, drei andere Schweine wanderten schnüffelndund grunzend zwischen den Bäumen umher, braune, schmale Leiber auf dünnen, fast grazilen Beinen. Megan hörte Hühner und roch den Komposthaufen, lange bevor sie ihn erreichte.
Das Haus war aus Holz und Bambus und mit dem auf der Insel üblichen Wellblech gedeckt. Es stand so weit von der nächsten Palme entfernt, dass eine fallende Kokosnuss es nicht treffen konnte. Hinter den Fenstern brannte Licht, aber es drang kein Geräusch heraus. Ein altes Fahrrad mit einem Anhänger, ein Holzklotz, in dem eine Axt steckte, zwei Fässer voll Regenwasser, ein Klappstuhl und eine herumliegende Schaufel waren die einzigen Dinge, die Megan erkennen konnte, als sie auf dem sauber gefegten Vorplatz stand und sich fragte, ob sie an die Tür klopfen oder weitergehen solle.
»Kommen Sie rein, es ist offen!«
Megan zuckte zusammen und machte einen Schritt nach hinten. Die Stimme kam ihr bekannt vor.
»Ich weiß, dass Sie es sind, Megan!«
Megan ging zur Tür, schob sie auf und betrat das Haus. Gelbes Licht aus mehreren Laternen erleuchtete einen Raum, der doppelt so groß wirkte wie das Gebäude um ihn herum. Rohe, mit durchlässiger weißer Farbe gestrichene Bretter bildeten die Wände, die bis unter das Dach mit Bildern, Karten, Plakaten, Zeitungsausschnitten, Fotos, bekritzelten Zetteln und zahllosen anderen Dingen bedeckt waren, Fundstücken vom Strand, Schwemmgut, ins Meer geworfen und wieder ausgespuckt, von der Sonne gebleicht und von jemandem aufgehoben, der ihre skurrile Schönheit erkannte.
»Guten Abend.« Tanvir saß an einem quadratischen Holztisch, der aus denselben Brettern wie die Wände gezimmert schien, und schälte eine Kartoffel. Über ihm drehte sich ein Ventilator, gerade so schnell, dass die losen Ecken des Papiers an den Wänden sich hoben wie einzelne Federn eines Gefieders.
»Hallo«, sagte Megan. Ein Falter flatterte an ihr vorbei in den erhellten Raum, und sie zog die Tür zu.
»Wollen Sie sich setzen?« Tanvir deutete auf den zweiten Stuhl.
Megan zog den Stuhl ein Stück vom Tisch weg, blieb jedoch stehen. »Wo ist Montgomery?«
»Er hatte heute Unterricht bei Nancy und schläft dort.«
Megan setzte sich und zog das Badetuch vor der Brust zusammen. Von irgendwoher roch es nach Feuer. Auf dem Tisch, neben einem Topf mit Wasser, in dem geschälte Kartoffeln schwammen, stand ein Radio mit einer Kurbel auf der Rückseite.
Tanvir bemerkte Megans Blick. »Wenn Sie Musik hören wollen, müssen Sie das Ding aufziehen.«
Megan schüttelte den Kopf und sah sich weiter um. In einer Ecke stand ein Bett, über das eine verwaschene braune Wolldecke gebreitet war. Ein Buch lag auf dem Kopfkissen, auf dem Buch eine Brille aus Draht. Drei aufeinandergestapelte Kisten dienten als Nachttisch, auf dem eine der Laternen stand. An der Wand über dem Bett hing eine riesige Weltkarte, deren Meeresflächen mit handschriftlichen Notizen und Kritzeleien bedeckt waren. Auf Regalen über einer Kommode standen Bücher, daneben geschnitzte Figuren, wie es sie auf asiatischen Märkten zu kaufen gab.
»Sind Sie hungrig?«
»Wie? – Oh, nein. Danke.« Megan las einen Satz, der mit schwarzen Pinselstrichen auf ein Blatt Papier
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