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Auf den Inseln des letzten Lichts

Auf den Inseln des letzten Lichts

Titel: Auf den Inseln des letzten Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Lappert
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Tee war noch heiß.
    »Wo war ich?«, fragte Tanvir.
    »Auf der Reise.«
    »Natürlich, ja, auf dem Weg nach Ranchi. Nun, wie gesagt, wir kamen lebend dort an, aber wir waren am Ende unserer Kräfte, und Geld hatten wir auch keines mehr. Und meinen Onkel sahen wir nie, er war gestorben, schon vor Jahren. Seine Kinder und Kindeskinder waren so arm wie wir, landlose Bauern, Bergleute, Tagelöhner. Meine Scham, Mitglied dieser Familie zu sein, wuchs angesichts der zerlumpten Verwandtschaft insUnermessliche. Wir kamen bei einem Mann unter, von dem mein Vater behauptete, er sei der älteste Sohn seines Bruders, also mein Cousin. Er lebte alleine, und meine Mutter, mein Bruder und ich wurden seine Sklaven. Anantram züchtete Hühner in einem Hof hinter dem Verschlag, den er Haus nannte und den er mit uns zu teilen bereit war, weil er ein so großes Herz hatte. Mein Vater fand Arbeit in einer Kohlengrube, und wir fütterten Hühner und reinigten den Hof, wir legten die Eier in eine Art Holztruhe, wo sie ausbrüteten, wir kümmerten uns um die Küken und sorgten dafür, dass die älteren Tiere sich auf dem engen Hof nicht gegenseitig totpickten, wir hackten den schlachtreifen den Kopf ab, wir rupften sie und sammelten die feinen Federn in einem Sack und die groben in einem anderen, wir nahmen sie aus und warfen Leber, Herz und Lunge in eine Schüssel und den Rest der Innereien in einen Eimer, wir vertrieben die Katzen, die auf den Mauern über unseren Köpfen liefen, wir standen barfuß im Hühnerdreck, wir fingen die Tiere, die Anantram auswählte, an heißen Tagen atmeten wir den Staub ein, den sie aufwirbelten, und in der Nacht husteten wir ihn aus, wir träumten von ihnen, wir bewegten uns wie sie, wir aßen ihre Köpfe und wurden zu ihnen. – Zur Schule ging ich nicht mehr. Es gab mich gar nicht. Aus Angst, dumm wie ein Huhn zu werden, erinnerte ich mich an die Bücher, die ich gelesen hatte, an die Länder, die uns die Lehrer beschrieben hatten. Ich löste im Kopf Rechenaufgaben, schrieb Aufsätze, hielt stumme Vorträge, zitierte Gedichte, die kein Lärm im Hof zu übertönen vermochte. So vergingen zwei Jahre, und als ich fünfzehn war, stürzten in einer Grube mehrere Schächte ein und zweiunddreißig Arbeiter kamen ums Leben, darunter mein Vater. Die Toten blieben in der Erde, eine Bergung wäre zu aufwendig und teuer gewesen. Mein Bruder bekam die Schuhe und die einzige Hose meines Vaters, ich ein viel zu großes Hemd. Danach gab es für meine Mutter keinen Grund mehr, mit meinem Bruder und mir in Ranchi zu bleiben. Eine meiner vielen Cousinen, ein dünnes, schüchternes Mädchen mit schiefen Zähnen, das keinen Ehemann fand, ging nach Madhya Pradesh, und wir gingen mit ihr. In Bophal fand meine Mutter eine Anstellung in einer Näherei, und mein Bruder, der damals um die zwanzig war, arbeitete als Küchenhilfe. Ich trug Essen aus. Ich brachte Leuten, die keine Zeit hatten, in ein Restaurant zu gehen, warme Mahlzeiten ins Büro, in die Werkstattoder wo auch immer sie arbeiteten. Einer meiner Stammkunden war ein alter Mann, der im Erdgeschoss seines kleinen Hauses eine Schreibstube betrieb. Er verfasste für Leute, die weder schreiben noch lesen konnten, Briefe und füllte Formulare aus, las ihnen behördliche Mitteilungen, private Post und Medikamentenzettel vor. Sein Name war Jahawar Bindra, und er mochte mich. Am Nachmittag, wenn ich meine Runde beendet hatte, ging ich zu ihm, durfte mich auf ein Kissen in eine Ecke setzen und in seinen Büchern stöbern. Er sprach mehrere indische Dialekte, Englisch und ein wenig Französisch, und seine Bibliothek war so umfangreich, dass ihm und seiner Frau nur ein winziges Schlafzimmer und eine noch winzigere Küche blieben. In der Schule hatte ich Sanskrit gelernt und ein bisschen Englisch, und ich verschlang alles, was sich in diesem Reich des Wissens und der Geschichten angesammelt hatte: Plato und Heraklit, Schopenhauer und Rousseau, Austen und Dickens, Twain und Melville, Tolstoi und Dostojewski. Ich wälzte Enzyklopädien und Medizinbücher, Atlanten und mehrbändige wissenschaftliche Anthologien, lernte alles über Seidenraupen, vieles über Ozeane und einiges über die menschliche Anatomie. Ich kann heute noch zwei Sonette von Shakespeare zitieren und ein Gedicht von William Butler Yeats, ich weiß, wo die Stadt Nachodka liegt und wie hoch der Nanda Devi ist und wie viele Knochen beim Kopfnicken bewegt werden.«
    »Wie viele?«
    »Zweiundzwanzig. – Jahawar brachte

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