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Auf den Inseln des letzten Lichts

Auf den Inseln des letzten Lichts

Titel: Auf den Inseln des letzten Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Lappert
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die beiden Ziegen, schnitt Gras von einer Wiese, die abseits meines Schulwegs lag, sammelte am Fluss Schwemmholz für den Ofen.Ich stahl Gemüse aus fremden Gärten und manchmal eine unbeaufsichtigte Schaufel, einen verlassenen Eimer, ein Stück Seil. Meinen Eltern war klar, dass ich die Dinge gestohlen hatte, aber sie sagten nie etwas. Sie konnten alles, was ich nach Hause brachte, gebrauchen, deshalb stellten sie mir nie Fragen. Ich wusste, dass ihnen ihre Armut peinlich war vor meinem Bruder und mir, und wir redeten nie über unsere Lage, nie über die knappen Mahlzeiten, den beengten Wohnraum, das fehlende Geld. – Wenn ich an die Geräusche meiner Kindheit denke, höre ich das Meckern der Ziegen, das Kratzen des Metallhakens in der Feuerstelle, das Prasseln des Regens auf dem Dach unseres Hauses. Und die Stille, die zwischen uns herrschte, die Wortlosigkeit bei den täglichen Verrichtungen, das stumme Nebeneinander während des Essens, das Schweigen auf dem langen Weg zur Feldarbeit.« Tanvir hob den Kopf ein wenig und sah ins Leere, als lauschte er in die Vergangenheit. Sein Gesicht war weich, die dunkle Haut bewegt vom Laternenlicht. Dann blickte er Megan in die Augen und lächelte. »Stille ist der wahre Klang der Kindheit.«
    Auch Megan lächelte. »Ja«, antwortete sie, und damit war alles zu diesem Thema gesagt.
    »Ich war fleißig, ja, das war ich. Ich lernte, als hinge mein Leben davon ab und das meiner Eltern und meines Bruders. Als ich zwölf war, ging der Lehrer dorthin, wo er hergekommen war, und an seine Stelle trat ein anderer, älterer, und der sagte mir nach einem Monat, ich sei etwas Besonderes, ich sei intelligenter als der Rest der Klasse und gehöre an ein Gymnasium. Aber das nächste Gymnasium war weit weg, und weil wir kein Geld hatten, blieb ich, wo ich war. Dabei wollte ich fort, nur fort, egal wohin. Ich verachtete meine Eltern für ihre Armut und ich bemitleidete sie. Einmal, als der Unterricht ausfiel, weil der Lehrer etwas Verdorbenes gegessen hatte, bin ich statt nach Hause in den Ort gelaufen. Sie müssen sich ein verschlafenes Kaff vorstellen, ein paar hundert schäbige Hütten, eine Handvoll ansehnliche Häuser, einen Marktplatz, eine Bushaltestelle, von der ein Bus in die große weite Welt hinausfuhr, fliegende Händler, Garküchen, Verkaufsbuden, Läden gefüllt mit Plunder, aus dem meine naive Begeisterung kostbare Schätze machte. Ich sah Ochsenkarren, Rikschas, Fahrräder, sogar Autos, ein einziger Tumult, laut und staubig und wundervoll. Und ich sah Männer und Frauen in Kleidern, dienicht dreckig und zerrissen waren, und Kinder, die herumstanden oder saumselig eine Straße entlanggingen, als hätten sie nichts zu tun und alle Zeit der Welt. Da verabscheute ich mein Leben noch viel mehr, und ich wünschte mir, etwas würde passieren, etwas Großes, etwas Gewaltiges. Ich wünschte mir einen Orkan, der mich hochheben und davontragen und irgendwo auf der Welt absetzen würde, wo es nicht nach Ziegen stank und niemand so dumm war und Seiten aus Schulbüchern riss, um damit Feuer zu machen. – Und mein Wunsch ging in Erfüllung. Es kam ein Taifun und mit ihm ein endloser Regen, der das Land im Wasser versinken ließ. Drei Tage und zwei Nächte hockten wir auf dem Dach unseres Hauses, aßen erst Brot und später rohe Hirse aus einem feuchten Sack und tranken die Milch der Ziegen, dann kam ein Boot und holte uns. Die beiden Ziegen mussten wir auf dem Dach lassen, weil im Boot kein Platz war, und als wir eine Woche später zurückkamen, waren sie weg, davongelaufen oder gestohlen, vielleicht auch gefressen von streunenden Hunden. Die Wände des Hauses waren eingestürzt, die wenigen Möbel kaputt oder weggeschwemmt, die Felder mit Schlamm und Unrat und Treibgut bedeckt. Meine Mutter weinte beim Anblick der Zerstörung, mein Vater, mein Bruder und ich suchten ein paar Dinge aus dem meterdicken Schlick: Kleidungsstücke, Teller, eine Axt. Wir fanden einen einzelnen Schuh und eine rote Plastikwanne, die uns nicht gehörte. Am nächsten Tag ging mein Vater mit uns auf die Felder, und wir schleppten Äste und Baumstämme und Teile von Häusern weg, die einmal irgendwo gestanden hatten, und der Gestank verwesender Tiere hing über allem, und als wir den letzten Schluck Wasser getrunken hatten, sagte mein Vater, es sei unmöglich, die Felder zu räumen und zu bewirtschaften und dann zu warten, bis die Zeit der Ernte gekommen sei. Wir würden vorher verhungern, sagte er, deshalb habe er

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