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Auf den Inseln des letzten Lichts

Auf den Inseln des letzten Lichts

Titel: Auf den Inseln des letzten Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Lappert
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für einen Kommentar zu holen, schwieg dann aber weiter und machte ein Gesicht, als verdaute er ein schweres, unbekömmliches Essen.
    Irgendwann musste Megan lachen. »Alles in Ordnung?«
    Tanvir zog die Augenbrauen hoch, setzte sich gerade hin und legte die Hände auf die Tischplatte. Er atmete tief ein und wieder aus. »Sind alle Ihre Geschichten so …« Er bewegte die Hände, wie um mit ihnen das richtige Wort zu formen.
    »Kurz?«
    »Düster.«
    »Keine hat ein Happy End, wenn Sie das meinen.«
    Tanvir nickte, die Lippen zusammengepresst.
    »Ich habe sie für meinen kleinen Bruder geschrieben. Ich wollte ihm Angst machen. Ich wollte, dass er glaubt, Tiere hätten magische Kräfte. Dass jeder Käfer, den er zertrat, die Macht besaß, sich aus dem Jenseits an ihm zu rächen.«
    »Und? Hat er es geglaubt?«
    »Eine Zeitlang ja.«
    »Wie heißt Ihr Bruder?«
    Megan trank von ihrem Tee. »Paul.«
    »Lebt er in Irland?«
    »Auf dem Hof. Er kümmert sich um Tiere, alte Hunde, Esel und Pferde, die keiner mehr haben will.«
    »Dann haben die Geschichten irgendwie gewirkt.«
    »Ja«, sagte Megan und zuckte zusammen, als ein großes Insekt gegen eine der Scheiben prallte.
    »Jetzt habe ich wieder nichts über Sie erfahren.«
    »Meine Biografie ist nicht sehr spannend.«
    Tanvir schenkte sich Tee ein. »Das glaube ich nicht. Jedes Leben ist eine wilde Abfolge weltbewegender Ereignisse und herzzerreißender Dramen.«
    »Ach ja? Ihres zum Beispiel?«
    »Aber gewiss doch.«
    Megan lehnte sich zurück und verschränkte die Arme über dem Bauch. »Ich höre.«
    Tanvir grinste. Er kratzte sich am Kopf, faltete die Hände und senkte den Kopf, als wollte er beten. Aber dann sah er Megan an, und in seinen eben noch müden Augen blitzte es. »Die kurze oder die lange Version?«
    »Die angemessene.«
    Tanvirs Grinsen wurde noch breiter. Er räusperte sich und legte die Hände mit den Handflächen nach unten auf den Tisch. »Also, ich will Sie mit Jahreszahlen verschonen. Nur so viel: Der große Krieg war zu Ende, als ich geboren wurde. Das British Empire teilte mein Heimatland geradein zwei Hälften auf, und das Schicksal wollte es, dass die große schmutzige Welt mich in jenem Teil willkommen hieß, der Ihnen als Indien bekannt ist. Warum und wozu ich lebte, war mir lange Zeit ein Rätsel. Ich lag herum, schlief, verdöste die Jahre. Eine Frau, von der ich nie erfuhr, wer sie war, weil sie starb, bevor ich sie fragen konnte, tauchte manchmal auf und kümmerte sich um mich, wie man sich um einen Topf Essen auf dem Feuer kümmert, damit nichts anbrennt. Als ich vier Jahre alt war, nahmen mich meine Eltern zum ersten Mal mit auf die Felder. Mein großer Bruder zeigte mir, was ich tun sollte, und die nächsten vier Jahre verbrachte ich damit, Steine aufzuheben, Wassergräben freizuschaufeln und Schädlinge von den Pflanzen zu pflücken. Ich glaubte schon, das sei mein Leben, da schickte man mich zur Schule, weil das Land Ingenieure und Architekten und Ärzte und Lehrer brauchte und nicht noch mehr ungebildete Bauern, die sich kaum selbst ernähren konnten. – Schule.« Tanvir lachte, schüttelte den Kopf. »Sie hätten sie sehen sollen, unsere Schule. Vier Wände aus Lehmziegeln und ein Wellblechdach, nicht viel besser als die Hütte, in der ich aß und schlief. Und der Lehrer ein Milchbart aus Kalkutta, kaum selber mit der Schule fertig, groß und so dünn, dass wir ihm manchmal das Stück Fladenbrot oder das gekochte Ei gaben, das wir von zu Hause mitbekommen hatten. Zum Unterrichten geboren war er nun wirklich nicht, das können Sie mir glauben. Er war schüchtern, seine leise Stimme verlor sich auf dem Weg in die hintersten Reihen, und wenn er uns für irgendetwas tadelte, mussten wir uns das Lachen verkneifen. Trotzdem brachte er uns das Nötigste bei, das schon, und als ich zehn war, konnte ich lesen und schreiben und wusste, dass ich Arzt werden wollte. Ich wollte viel Geld verdienen, in einer Stadt leben, ein Auto fahren. Ich wollte Leute vor dem Tod retten und meine Eltern vor ihrem armseligen Leben, in das sie sich so demütig und stumm fügten. Ich hasste sie dafür und mich auch, weil ich ein Kind war und nichts tun konnte, außer zuzusehen, wie sie jeden Tag in der Morgendämmerung auf die Felder gingen und am Abend zurückkamen, die Haut mit eingetrocknetem Schlamm bedeckt und hungrig und beinahe zu erschöpft, um zu essen. – Ich war ein guter Sohn, das darf ich sagen, ja. Ich half, wo es mir möglich war. Ich fütterte

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