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Auf den Inseln des letzten Lichts

Auf den Inseln des letzten Lichts

Titel: Auf den Inseln des letzten Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Lappert
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beschlossen, wegzugehen, an einen anderen Ort, weg von der Küste, ins Innere des Landes, nach Ranchi im Bundesstaat Jharkhand, wo es angeblich Arbeit gab für ihn. Einer seiner Brüder wohne dort, erzählte er uns, und der habe ihm schon vor vielen Jahren gesagt, in den Kohlegruben würden ständig Männer gesucht, die keine Angst hätten, ins dunkle Gedärm der Erde zu steigen, und diese Angst kenne er nicht. Wie sollte er auch, dachte ich, er war nie tiefer in die Erde eingedrungen als der Pflug, den er über das Feld zog wieein hirnloser Ochse. Und jetzt stand er da und redete davon, uns in ein neues Leben zu führen, als hätte er die ganze Zeit geschwiegen, um genug Wörter für diese Ansprache zusammenzusparen. Meine Mutter weinte die ganze Nacht, die wir schlaflos auf fauligem Stroh verbrachten, aber am nächsten Tag war sie als erste bereit, loszumarschieren. Weil meine Eltern das Land nur bestellt und nicht besessen hatten, verließen wir unser altes Zuhause mit dem wenigen Geld, das die Flut in einer Blechdose in der Mauernische neben der Feuerstelle überstanden hatte. Es war genug, um uns sehr langsam, aber lebend ans Ziel zu bringen. – Fühlte ich mich schuldig? Ein wenig vielleicht, ja. Aber eigentlich wusste ich, dass das Unsinn war. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, es liegt mir fern, mich aufzuspielen, aber ich verfügte schon damals über ausreichend Intelligenz, um weder an die Kraft des Wünschens noch an höhere Mächte zu glauben, und schon gar nicht an einen Gott, der die Gebete eines verbitterten Jungen erhört und ein halbes Land in einer Sintflut untergehen lässt.« Tanvir trank den Rest seines Tees und füllte beide Tassen.
    Draußen lärmten die Zikaden, dazwischen meinte Megan das gelegentliche Rufen eines Vogels zu hören.
    »Glauben Sie an Gott, Megan?«
    »Nein.«
    »Darf ich fragen, warum nicht?«
    »Es gibt keinen. Für niemanden.«
    Tanvir schaufelte Zucker in die Tasse und rührte um. Dabei nickte er. Als er aufhörte, umzurühren, hörte er auch auf zu nicken. »Meine Eltern waren Hindus«, sagte er schließlich. »Aber ihnen fehlte, wie soll ich sagen, die Beziehung zur Religion. Sie hatten sie von ihren Eltern und Großeltern übernommen wie einen gusseisernen Kochtopf oder eine Wolldecke, ein Erbe sozusagen. Sie befolgten die Regeln, nahmen an den wichtigen Festen teil, brachten hin und wieder zu Hause oder in einem Tempel ein Opfer dar, aber meistens waren sie zu müde, um auch nur zu beten. Ich denke, diese nicht sehr ausgeprägte Religiosität war der Grund, weshalb wir fortgingen und nicht blieben wie unsere Nachbarn, die im Vertrauen auf die Götter weitermachten, selbst wenn die Lage beinahe aussichtslos war.« Tanvir stand auf, holte den Topf mit dem heißen Wasser und goss davon in den Teekrug.
    Megan erhob sich ebenfalls, trat ans Fenster und sah in die Dunkelheit. »Montgomery bleibt aber lange draußen«, sagte sie.
    »Ach, den habe ich ganz vergessen.« Tanvir stellte den Topf ab, öffnete die Tür und trat ins Freie.
    Megan folgte ihm, schloss die Tür hinter sich. »Kann ihm etwas zugestoßen sein?«
    »Keine Sorge«, sagte Tanvir. »Manchmal sitzt er stundenlang bei den Hühnern oder Schweinen.« Sie gingen zum Hühnerstall, einer kleinen Hütte auf schulterhohen, mit Stacheldraht umwickelten Stelzen. Auf dem leicht nach hinten abfallenden Dach aus Brettern und Teerpappe lag eine Leiter. Tanvir blickte in die dunkle Öffnung, hinter der Megan einen hellen Körper zu erkennen glaubte. Sie gingen weiter, vorbei an mehreren ineinander verschlungenen Schweineleibern, dann blieb Tanvir stehen. »Oder er ist eingeschlafen.« Er deutete auf eine zwischen zwei Bäumen gespannte Hängematte, in der Montgomery lag.
    Megan ging ein paar Schritte näher heran und betrachtete den Bonobo. Er lag auf der Seite, ein Arm hing herunter, ein Bein war angewinkelt, das Knie berührte den Bauch. Wenn er einatmete, machte er ein sanft rasselndes Geräusch, und einmal zuckte sein Augenlid, als würde er Megan im Schlaf zuzwinkern.
    »Und jetzt?«, fragte Megan leise. »Lassen wir ihn hier?«
    »Ja«, flüsterte Tanvir. »Ich hole ihn später rein.«
    Sie gingen zurück. Bis auf das Sirren der Zikaden war es still. Helle Falter schwebten in der Dunkelheit, in die aus Fenstern, Spalten und Ritzen gelbes Licht drang. Die Tür und die Bodenbretter knarrten, das ganze Haus ächzte wie ein Wesen, das in seiner Nachtruhe gestört wird. Tanvir und Megan setzten sich an den Tisch, der

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