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Auf den Inseln des letzten Lichts

Auf den Inseln des letzten Lichts

Titel: Auf den Inseln des letzten Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Lappert
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Auf dem obersten stand in großen, sorgfältig gemalten Buchstaben ihr Name: MEGAN O FLYNN. Auf dem zweiten war mit Klebeband die leere Verpackung eines Getreideriegels befestigt, von denen sie mehrere auf die Insel mitgenommen hatte. Auf das dritte Blatt hatte Ruben mit Bleistift den Grundriss ihres Zimmers gezeichnet. Das vierte war gefüllt mit einem einzigen handgeschriebenen Wort, das er unzählige Male wiederholte: WIRKLICHKEIT. Auf dem nächsten Blatt standen in großen roten Buchstaben die Zahlen 15, 28 und 13, und auf dem letzten die drei Sätze MEGAN ISST KEIN FLEISCH, MEGAN KANN SCHWIMMEN und MEGAN LIEBT AFFEN.
    In der zweiten Plastiktüte waren Blätter, auf die Ruben aus Zeitungen geschnittene Fotos von Schauspielerinnen, Sängerinnen und Models geklebt hatte. Megan erkannte ein paar Gesichter, aber Namen fielen ihr nicht ein. Die Bilder waren schwarzweiß, was ihnen die technische Trostlosigkeit von Polizeiakten verlieh. Dreiundzwanzig Blätter umfasste die Sammlung, ein abgegriffenes Album der Sehnsucht, herzzerreißend schäbig und in seiner kindlichen Ernsthaftigkeit doch leuchtender als jedes Hochglanzmagazin.
    Megan legte die Sachen zurück in ihr albernes Versteck. Nur das T-Shirt hängte sie an einen Bügel in den Schrank. Dann zog sie die Schuhe an, ging aus dem Zimmer und die Treppe hinunter. Noch immer spielte dasGrammofon dasselbe Lied. Sie verließ das Haus, lief ein Stück weit über die Wiese und folgte dem Weg zur Station.
     
    In ihrem Zimmer nahm sie die getippten Seiten und die Hefte unter der Matratze hervor und machte sich auf die Suche nach einem neuen, weniger naiven Versteck. Sie fragte sich, ob Ruben etwas davon gelesen haben mochte, und war erstaunt, wie wenig es sie gestört hätte. Eine Fensterbank war lose, und Megan kratzte mit einem Nagel die Farbe aus den Fugen, schlug mit der Faust ein paarmal von unten gegen das Brett und hob es so weit an, dass sie die in Zeitungspapier eingeschlagenen Hefte und Blätter in den Hohlraum schieben konnte.
    Danach war sie durstig und machte sich auf den Weg zur Küchenbaracke. Inzwischen war es Nacht geworden. Windböen strichen kraftlos über Megan hinweg und verfingen sich in den Blättern der Bäume, ohne sie zum Rascheln zu bringen. Als das Gebäude vor ihr auftauchte, sah sie durch die Fenster Raske und Malpass und wollte ohne Bier zum Strand weitergehen, aber Raske winkte ihr schon zu.
    »Wie schön, Sie zu sehen!«, rief er bei Megans Eintreten. Er trug eine lange helle Hose und ein blaues Hemd, dessen Ärmel er hochgekrempelt hatte. Seine Haare waren aus der Stirn gekämmt und sahen starr aus, wie mit Gel gestärkt. Er bückte sich nach einem Pappkarton und stellte ihn auf den Tisch. »Ich habe Ihnen etwas mitgebracht. Wir haben Ihnen etwas mitgebracht.«
    Malpass grunzte nur, schlechtgelaunt wie immer. Er aß frittierte Fische und Reis und trank dazu Wasser, in dem Eiswürfel schwammen. Sein weißes Baumwollhemd hatte am Kragen einen Riss, über seinen Hals zog sich ein dünner Kratzer.
    Megan klappte die Deckel des Kartons nach außen und spähte hinein.
    »Nur zu«, sagte Raske.
    Als erstes hob Megan ein Stethoskop aus der Kiste. Es war neu, sie musste die Manschette mit dem Logo des Herstellers abnehmen und die Plastikfolie an den Ohrstöpseln entfernen, um es auszuprobieren. Ihr Herz schlug normal, in der Hitze gerade schnell genug.
    »Da ist noch mehr drin.«
    Megan förderte ein Blutdruckmessgerät zutage, danach eine Stablampe,wie sie Hals-Nasen-Ohren-Ärzte verwendeten, diverse verpackte Zangen, Scheren und Skalpelle, eine Schachtel mit Zungenspateln und eine mit Latexhandschuhen, mehrere Sets Teststreifen für Urinproben, eine eingeschweißte Packung Einwegspritzen, eine Plastiktüte voller Heftpflaster, Mullbinden, Verbandstoffrollen, steriler Watte, Klammern und Sicherheitsnadeln. Ganz unten lagen Medikamente: Salben, Tropfen, Tabletten.
    »Wenn etwas fehlt, sagen Sie Bescheid.« Raske setzte sich an seinen Platz neben Malpass, der sich die fettigen Hände an einer Serviette abwischte und eine Zigarette anzündete.
    Megan nickte. »Danke.« Sie legte die Sachen zurück in den Karton. Eine Weile würde sie also noch auf der Insel bleiben, dachte sie, von der Vorstellung gleichermaßen erleichtert und bedrückt.
    »Haben Sie gegessen?«
    »Ja. Ich wollte mir ein Bier holen.«
    Raske erhob sich, ging in die Küche und kam mit zwei Flaschen Bier zurück. Er öffnete beide und gab Megan eine davon. »Morgen richten wir Ihnen

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