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Auf den Inseln des letzten Lichts

Auf den Inseln des letzten Lichts

Titel: Auf den Inseln des letzten Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Lappert
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stürzten zehn in die Tiefe. Mister Lipshitz saß hinter seinem Schreibtisch, trank Tee und telefonierte in einer Sprache, die Megan schon einmal gehört hatte, ohne sich an das Wo und Wann zu erinnern. Er wollte sich am Rücken kratzen, aber die kleine geschnitzte Hand am Ende des Bambusstocks fehlte. Er legte den Hörer auf und rief nach Megan. Bücher kippten aus den Regalen, Staub vermischte sich mit dem trüben Licht. Megan stand vor dem haushohen Tisch, dessen Beine mächtige Bäume waren. Sie fasste in ihre Hosentasche, zog die Hand wieder hervor und öffnete die Faust, dann den Mund.
    »Was?«
    »Ich brauche Sie. Für die Ratte.«
    »Megan.«
    Megan erkannte ihren Namen und öffnete die Augen.
    »Hallo.«
    Megan richtete sich auf. Ihr Kopf war schwer, ein bitterer Geschmack lag in ihrem Mund. Sie erkannte Carla, die lächelte, und gab sich Mühe, zurückzulächeln.
    »Du hast geträumt.«
    »Ja.« Megan atmete ein paarmal tief ein und aus.
    »Von einer Ratte?«
    Megan stöhnte auf und vergrub den Kopf zwischen den Knien. »Die Hand war für sie.«
    »Alles klar.« Carla legte Megan ein Tuch um die Schultern.
    »Da war heute Abend diese Ratte in der Küche. Sie hatte ihre Pfote in einer Falle.« Megan ließ sich zurück in den Sand fallen. »Raske hat sie totgetreten.«
    Carla rollte eine Decke aus und setzte sich neben Megan. »Vor etwa drei Jahren hatten wir auf der Insel eine Rattenplage. Ziemlich unheimlich, glaub mir. Jetzt versuchen wir, sie in Schach zu halten, aber die Viecher sind schlau.«
    »Manchmal wünschte ich mir, anders zu ticken«, sagte Megan leise. »Nicht für jeden dahergelaufenen Käfer Mitleid zu empfinden.«
    »La Santa Megan, Patrona de los seres inferiores.«
    »Was?«
    »Die heilige Megan, Schutzpatronin der niederen Kreaturen.«
    Megan legte einen Arm über die Augen. »Ich habe zu viel getrunken.«
    »Schlaf heute hier.«
    Megan rollte sich auf die Seite, stützte sich auf den Ellbogen und sah Carla an. »Warum gehst du weg?«
    »Die Augen meiner Mutter. Sie sieht kaum noch etwas. Mein Vater ist völlig überfordert.«
    »Buenos Aires«, flüsterte Megan.
    Carla legte sich hin und schloss die Augen. »Ich kaufe ein großes Haus. Dort leben wir alle. Mein Vater liest meiner Mutter aus Büchern vor.«
    Megan erhob sich, stand eine Zeitlang schwankend da, als würdenWindstöße an ihr zerren. Sie drehte Carla den Rücken zu, löste den Knoten in den Ärmeln und wischte sich damit über die Augen. Dann zog sie das Hemd an. Eine Möwe segelte vorbei.
    »Kommst du wieder?«
    »Wenn ich nicht zu müde bin«, sagte Megan und ging über den Sand auf die Lücke in den Büschen zu, die in der Dunkelheit aussah wie ein offenstehendes Tor in einer Gartenmauer.
    Unterwegs blieb sie alle paar Minuten stehen. Es kam ihr vor, als müsste sie jeweils warten, bis das alkoholhaltige Blut, das beim Gehen in ihren Kopf gepumpt wurde, wieder abfloss. Dem Verlangen, sich hinzulegen, gab sie nur deshalb nicht nach, weil sich alles drehte, sobald sie die Augen schloss. Einmal setzte sie sich auf den Boden und weinte, aber dann nahm sie sich zusammen und dachte an den Ratgeber, den sie in London gekauft hatte, fragte sich, weshalb sie weinte, und hörte auf, als ihr kein besserer Grund einfiel als der, dass sie traurig war.
    Sie stolperte über eine Wurzel und imitierte in einem Phantasiespanisch Carlas Schwall wilder Flüche. Zwischen den Bäumen fing sie an zu singen, hörte jedoch auf, als sie damit Vögel weckte, die schlaftrunken in den Nachthimmel hochflatterten. Sie rief ihnen nach, zu bleiben, und scheuchte damit noch mehr Tiere auf. Als sie vom Weg abkam und hinfiel, zwang sie sich zu lachen, blieb eine Weile auf dem Bauch liegen und sog den Duft der Erde ein. Ihr war plötzlich warm, und sie nahm sich vor, schwimmen zu gehen. Nachdem sie sich aufgerappelt hatte, ging sie weiter, leise singend.
     
    Sie erschrak nicht, als sie ihr Zimmer betrat und Ester auf dem Bett sitzen sah. Sie drehte am Lichtschalter, aber nichts passierte. In der stickigen Luft fühlte sie sich gleich wieder betrunken. Der Ventilator war der Propeller eines abgestürzten Flugzeugs, die Schraube eines gestrandeten Schiffs. Sie öffnete beide Fenster, nahm ein Streichholz aus der Schachtel und zündete die Petroleumlampe an.
    Ester streckte die Hand aus, und Megan setzte sich neben sie.
    »Wo warst du?«
    »Am Strand.«
    Ester fuhr mit zwei Fingern über Megans Stirn und strich ihr eineHaarsträhne hinter das Ohr. »Deine

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