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Auf den Inseln des letzten Lichts

Auf den Inseln des letzten Lichts

Titel: Auf den Inseln des letzten Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Lappert
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Geruch die Dunkelheit füllte.
    Dann vernahm sie die Stimme erneut, und diesmal zweifelte sie nicht daran, dass es die von Ester war. Eine Weile stand Megan einfach nur da und horchte. Hin und wieder glaubte sie Raske zu hören, aber vielleicht war es auch der Klang des Basses, der dumpf hinter den Mauern schlug und im Innenhof verhallte. Einmal wusste sie nicht, ob Ester lachte oder aufschrie. In der schweren, moderigen Luft wurde sie plötzlich müde. Sie ließ den Kopf kreisen und die Schultern hängen, machte einen Buckel und schüttelte die Arme, wie sie es früher vor dem Schwimmen getan hatte. Dann kletterte sie auf den Baum, der so dicht beim Haus stand, dass einer seiner Äste bis zur Mauer reichte. Die Borke war glitschig, und als Megan sich sitzend nach vorne bewegte, tat sie es langsam und vorsichtig und den Blick geradeaus gerichtet.
    Jetzt sah sie die Fenster im oberen Stockwerk, zwei dunkle und ein erhelltes. Das Licht wurde von einem dünnen Vorhang auf ein fahlgelbes Glimmen reduziert und verlor sich im schwarzen Rechteck des Innenhofs. Minutenlang kauerte Megan regungslos auf der Mauer, die Hände in einer Schicht verrotteten Laubs, aus denen streichholzdünne Bäumchen wuchsen. Windböen fuhren herab, unregelmäßig wie die Fetzen von Jazzmusik, die aus dem Haus drangen.
    Dann betrat endlich jemand das Zimmer, und obwohl Megan nur Umrisse wahrnahm, erkannte sie Raske. Die Gestalt, die hinter ihm erschien, war zweifelsfrei Ester. Der Deckenventilator begann sich zu drehen und bewegte den Vorhang und mit ihm die Schemen der beiden Körper, was aussah, als erfasste sie ein feines Zittern. Megans Beine taten weh, und sie setzte sich hin und ließ die Füße in den Hof baumeln. Sie hörte Musik und die beiden Stimmen, verstand aber nichts von dem, was gesprochenwurde. Das Fenster war vielleicht acht Meter von ihr entfernt, und sie nahm die Beine hoch, stellte die Füße auf die Mauer, erhob sich langsam und balancierte dann, die Arme ausgestreckt und die Augen auf die hellen Spitzen ihrer Turnschuhe geheftet, in winzigen Schritten vorwärts.
    Schließlich war sie so nahe an der Hausmauer, dass sie den kühlen Verputz berühren konnte. Sie ging in die Hocke, schloss die Augen und versuchte die Stimmen aus den Musikfetzen herauszulösen, doch es gelang ihr nicht. Kein einziger Satz kam vollständig bei ihr an, nur hin und wieder ein Wort oder ein Name: Tanvir, Malpass, mehrmals ihr eigener. Als nichts mehr gesprochen wurde und das Zimmer nur noch Licht und Musik in die Dunkelheit abgab, ging Megan zu der Stelle, wo die Mauer einen rechten Winkel machte, folgte ihr ein paar Meter bis zur Mitte, setzte sich hin und wartete.
    Nach einer Weile fühlte sie sich wie die einsame Besucherin eines Freiluftkinos, dessen Leinwand erleuchtet war, aber bilderlos blieb. Raske und Ester tauchten nicht mehr auf. Irgendwann verstummte die Musik. Megan vermutete, dass Ester nun bald das Haus verlassen würde, doch nichts geschah. In der Stille versuchte sie vergeblich sich zu erinnern, wo Raskes Büro war, wo das Bad und wo das Schlafzimmer. Sie konnte die Gegenwart der beiden spüren, ihre Bewegungen hinter den Mauern erahnen. Sie schloss die Augen und atmete tief ein und aus, zehnmal, zwanzigmal. Ihr Magen verkrampfte sich. Sie legte den Kopf in den Nacken, schlug die Augen auf und erschrak, weil der Himmel zum ersten Mal seit Monaten wieder voller Sterne war. Als sie den Mond erblickte, heulte sie ihn an. Irgendwo krächzte ein Vogel, und sie lachte. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und sah, wie im zweiten Raum das Licht anging und Raske ans Fenster trat. In der Sekunde, in der er den Vorhang zur Seite schob, schwang sie die Beine über die Mauer, stieß sich mit den Händen ab und sprang in die Dunkelheit.
    Die Mauer war etwa drei Meter hoch, aber sie landete mit dem linken Bein zuerst, und ihr Knöchel knickte um. Ein kurzer, brennender Schmerz fuhr ihr in den Fuß. Sie ließ sich nach vorne fallen und blieb auf dem Bauch liegen, ballte die Fäuste und fluchte leise. Dann biss sie die Zähne aufeinander, rappelte sich hoch und humpelte davon. In ihrem Rücken blieb alles ruhig, kein Türenschlagen, keine Rufe. Sie musste dasFußgelenk belasten, dachte sie, sonst würde sie bald keinen Schritt mehr gehen können. Sie fing an zu rennen, und die Schmerzen trieben ihr Wasser in die Augen, aber sie blieb nicht stehen. Der Boden war weich, an einigen Stellen federte er wie die Gymnastikmatten, auf denen sie mit

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