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Auf den Inseln des letzten Lichts

Auf den Inseln des letzten Lichts

Titel: Auf den Inseln des letzten Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Lappert
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überlegte, wer die Männer waren und warum Tanvir sich mit ihnen traf, aber ihr fiel keine plausible Erklärung ein. Ein flaues Gefühl machte sich in ihrem Magen breit; seit dem Frühstück hatte sie nichts mehr gegessen. Sie beschloss, sich zehn Minuten auszuruhen und dann zurück zur Station zu gehen, um nachzusehen, ob bei Rosalinda noch etwas auf dem Herd stand. Nachdem ihre Uhr stehengeblieben war, hatte sie sich angewöhnt, mehrmals am Tag die Zeit zu schätzen, und schaffte es mittlerweile, auf eine halbe Stunde genau zu sein. Jetzt war es neun, höchstens halb zehn, vermutete sie. Sie erinnerte sich, wie sie oft mitten am Tag unter das Vordach ihres Zimmers getreten war, in den verhangenen Himmel geschaut und laut eine Uhrzeit gerufen hatte, worauf Ester die tatsächliche Zeit zurückgerufen hatte.
    Der Gedanke an Ester versetzte ihr einen Stich. Sie hätte sich auf nichts einlassen sollen, dachte sie. Sie hätte für sich bleiben sollen, eine Insel auf der Insel. Mit diesem unbedachten, von dummer Sehnsucht geleiteten Schritt war sie in den Kreis der Schiffbrüchigen eingetreten, in den schäbigen Zirkel der einsamen Herzen. Malpass und Rosalinda. Carla und Tanvir. Sie und Ester. Ester und Raske. Sie winkelte das linke Bein an, packte den Fuß mit beiden Händen und drehte ihn in alle Richtungen. Die Schmerzen überstrahlten jeden Gedanken und jeden anderen Schmerz. Sie keuchte, Schweiß trat ihr aus den Poren. Sie saß auf dem Hügel hinter dem Haus und ritzte sich mit einem Messer in die Haut am Fuß, wo niemand es sehen würde, schob die Klinge unter den Zehennagel, bis ihr schwarz vor den Augen wurde, bis sie schrie wie Holly, die nicht begriff, was mit ihr geschah, und genau wusste, dass ihr Leben zu Ende war. Holly, die lächelte und die Ohren spitzte, wenn sie Musik hörte.
    Als eine Hand sich auf ihre legte, öffnete Megan die Augen und sah Montgomery, der vor ihr im Sand saß. Auch diesmal erschrak sie nicht. Der Gedanke, dass ab jetzt, wann immer sie traurig sein würde, Montgomery käme, um ihre Hand zu halten, ließ sie aufschluchzen. Der Bonobo nahm die Mütze ab, rückte näher an Megan heran, berührte ihre Wange, über die Tränen liefen, und schürzte die Lippen. Dann zog er die Hand zurück und betrachtete mit gerunzelter Stirn die nasse Spitze seines Zeigefingers.
    »Ich weiß«, sagte Megan leise, »ich heule zu viel.« Sie lehnte sich nach vorne und legte ihren Kopf an seine Brust.
    Montgomery seufzte, tätschelte unbeholfen Megans Schulter und ließ die Hand schließlich auf ihrem Rücken ruhen. In dieser Haltung blieben sie minutenlang. Megan spürte keine Schmerzen mehr, nur noch eine vertraute Verzweiflung, von der sie längst wusste, dass sie zu ihr gehörte wie ihr Name. Spielball ihrer Stimmungen hatte Stuart es genannt. Stuart, dachte sie, auch so ein gründlich falscher Schritt. Ob er jemals den Herzschlag eines Primaten gehört hatte, ohne ihm ein Stethoskop an die Brust zu halten?
    Ein kaum wahrnehmbarer Ruck ging durch Montgomery. Dann hörte Megan es auch. Tanvir rief nach ihm. Montgomery richtete sich auf und nahm Megans Hand in seine, zog sanft an ihrem Arm. Sie drehte den Kopf und sah das Boot durch die Brandungswellen auf das Meer hinausfahren und den Strahl der Taschenlampe weiße Linien über den Strand werfen.
    Megan zog ihre Hand zurück. »Geh nur«, sagte sie.
    Montgomery sah sie fragend an und griff nach ihrem Unterarm.
    »Nein. Geh alleine.«
    Der Bonobo sah in Tanvirs Richtung, dann wieder in Megans Augen. Über dem Rauschen des Meeres und dem Gesang der Zikaden klang sein Name wie der Ruf eines sehr ungewöhnlichen Vogels.
    »Geh zu Tanvir.« Megan machte eine wegscheuchende Handbewegung und legte sich hin.
    Montgomery zögerte, aber schließlich berührte er Megan in einer hilflos zärtlichen Geste am Knie, setzte die Mütze auf und ging um die Krone des Baums herum zu Tanvir, der nur noch einen Steinwurf weit entfernt war. Megan wartete eine Weile. Irgendwann hob sie den Kopf über den Stamm und sah gerade noch, wie Tanvir und Montgomery, das Licht der Taschenlampe zwischen sich, im dunklen Gewölbe eines Wäldchens verschwanden. Sie stemmte sich hoch und stöhnte laut auf, als sie den linken Fuß belastete. In dem Streifen aus Treibgut fand sie einen Ast, den sie auf dem Pfad, wo der Boden fester wurde, als Stock benutzte. Jetzt fiel ihr ein, dass sie ihren gelben Schirm dabeigehabt und vor Raskes Haus vergessen hatte. Sie überlegte, ob sie ihn holen

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